Das Wochenende verlief extrem entspannt. Wir genossen das
spätsommerliche Wetter, ließen es uns in Cafés, Biergärten, Restaurants und
Bars gut gehen, erkundeten die verschiedensten Sehenswürdigkeiten, schipperten
über den Neckar, sahen Anderen dabei zu, wie sie schwitzend-schnaufend den
Königstuhl hochrannten, während wir die gemütliche Tourivariante mit der
historischen Drahtseilbahn bevorzugten und uns, nach dieser wahnsinnigen
Anstrengung, erst einmal mit einem kühlen Getränk erfrischen mussten, um die
Aussicht entsprechend würdigen zu können. Zwei Tage ohne Hektik und Stress. Ein
Hauch von Urlaubsgefühl stellte sich ein und bis etwa Sonntag 15 Uhr genossen
wir das Leben in vollen Zügen … ach nee, Moment, der Teil mit den vollen Zügen
sollte ja erst noch kommen.
Mit der Entspannung war es am frühen Sonntagnachmittag dann
aber vorbei, als mir plötzlich bewusst wurde, dass der Montag immer näher
rückte und es bis zurück nach Berlin, wohl oder übel noch ein Weilchen dauern
würde. Eine passende Zugverbindung zum Flughafen hatte ich mir vorab bereits
rausgesucht und so packte ich, trotz allem gut gelaunt, meinen Koffer. Bevor
ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte, wollte ich – eigentlich nur pro forma
und nichts Böses ahnend – eben kurz meine Zugverbindung von Heidelberg nach
Frankfurt Main Flughafen Fernbahnhof prüfen. Beim Anblick des rot leuchtenden
Warnsignaldreiecks verschob sich meine rechte Augenbraue spontan Richtung
Haaransatz, die Augen drehten ein, zwei Loopings und die gesunde Gesichtsfarbe
wich einem dezenten aschgrau. Dank der Tatsache, dass – wie ich bei genauerem
Hinsehen feststellen konnte – trotz Signalstörung nur circa zehn Minuten – kein
Problem – Verspätung angedroht wurden, ließ, in Kombination mit leicht
aufsteigendem Bahn-Hass, wieder etwas Farbe, wenn auch mit erhöhtem Rotanteil,
in mein Gesicht zurück kehren und ich machte mich auf den Weg zum Bahnhof.
Schnell noch ein Zugticket gekauft und ab in die Regionalbahn nach Mannheim.
Pünktlich! Dort angekommen, wechselte ich rasch auf den benachbarten Bahnsteig
und stand plötzlich in einer übellaunigen Menschenansammlung, die die
Stuttgart-21-Demonstrationen rückwirkend als geselliges Volksfest erscheinen
ließen. Ein kurzer Blick auf die Anzeigetafel erklärte das wilde Treiben:
„circa. 25 Minuten Verspätung“. Ich schaute auf meine Uhr, rechnete kurz nach
und konnte beruhigt konstatieren, dass mir in Frankfurt trotzallem noch eine
gute halbe Stunde Luft bis zum Gate blieb. Recht knapp, aber wird schon passen.
In diesem Moment fiel mir auf, dass auf dem Nachbargleis ein Intercity mit Halt
in Frankfurt Hauptbahnhof stand und wohl alsbald abfahren würde. Ich fand recht
zügig ein Mitglied des örtlichen Servicepersonals und konfrontierte ihn mit der
Frage, wann denn dieser Zug in der Bankenmetropole ankommen würde. Antwort:
„Gegen 17.30 Uhr.“ Ich schaute etwas verdutzt, denn für die Strecke Mannheim
Frankfurt werden normaler Weise gut dreißig und nicht über sechzig Minuten
benötigt. Kurz überlegt und ermittelt wie lange die S-Bahnfahrt vom
Hauptbahnhof zum Flughafen dauert und entschieden, dass es tatsächlich keinen
Vorteil bringen würde – theoretisch. Ich kam dann zufällig mit dem einzig
wirklich unbeeindruckten am Bahnsteig stehenden Typen ins Gespräch. Er wollte
auch zum Flughafen, um von dort weiter nach Peking zu reisen, geschäftlich. Er
hatte gerade die Information erhalten, dass sein Flug gut fünfeinhalb Stunden
Verspätung haben würde, was seine der eigentlichen Situation völlig
unangemessene Gelassenheit erklärte. Dies hielt ihn aber nicht davon ab,
ebenfalls über die Unzumutbarkeit der Zustände bei der Bahn im Allgemeinen und
im Speziellen zu wettern. Auf dem Gleis direkt vor uns fuhr eine Regionalbahn
ein und stiftete kurz zusätzliche Verwirrung. Wir unterhielten uns ein wenig,
ich schilderte ihm meine zunehmende Zeitnot und erhielt dafür beruhigenden
Zuspruch. Als wir plötzlich von einer Schülerin, leicht außer Atem,
angesprochen und gefragt wurden, ob den die Regionalbahn schon durch sei. Wir
schauten uns an und mussten ihr leider mitteilen, dass diese offensichtlich vor
wenigen Augenblicken abgefahren sein musste, denn der Zug stand nicht mehr vor
uns. Sie stampfte fluchend auf und stöhnte: „Ist das Drecksding schon wieder zu
früh abgefahren!“. Ich vermute spontan, die Bahn versucht mit diesem Trick ihre
Statistik aufzubessern: 25 Minuten zu spät, plus 3 Minuten zu früh, sind schon
nur noch 22 Minuten Verspätung, oder ein Zug zu spät, einer zu früh, bedeutet
im Mittelwert alle pünktlich. Die Schülerin zischt davon und wir warten weiter
auf den ICE. Die prognostizierte Verspätung ist fast rum, als die Durchsage
ertönt, der ICE würde gleich einfahren. Kurz darauf folgt die nächste Ansage:
„Der ICE nach Dortmund verkehrt heute nur mit einem Zugteil in den Abschnitten
A bis C“. Kluge Entscheidung, Sonntagnachmittag sind, vor allem nach einem
langen Wochenende, im Verhältnis zu sonst auch eher weniger Passagier zu
erwarten. Auf diese Information hin bewegt sich die versammelte Menschenmasse
in Richtung der Abschnitte A bis C und komprimiert sich ebenda. Der ICE fährt
ein, ein Blick auf die Uhr, auf ein paar Minuten kommt es nun auch nicht mehr
an, und mit Mühe und Not quetschen sich die wenigen Aussteige Willigen durch
die wartende Menge aus dem schon mehr als gut gefüllten Zug. Die letzten
kollidieren schon unausweichlich mit den Sitzplatzjagenden Einsteigern. Schon
mal gesehen, was passiert, wenn man etwas Futter in ein Becken voller hungriger
Piranhas wirft? So ungefähr ging es in etwa zu diesem Zeitpunkt auf dem
Mannheimer Hauptbahnhof zu. Als sich dann endlich alle in den Zug gedrängt
hatten, ich konnte einen Stehplatz direkt zwischen Gepäckverstauraum und
Türbereich ergattern – so käme ich an der nächsten Station wenigsten wieder
recht schnell aus dem ICE raus – tauchte ein Zugbegleiterin mit dem
charmant-freundlichen Gesichtsausdruck einer Abrissbirne vor der Tür auf und
plärrte: „Sie könn‘ direkt wieder aussteigen, der Zug fährt SO!!! nicht los. Könn‘
se vergessen!!!“. Sämtliche Zuginsassen – selten passte die Beschreibung besser
– schauten sich an, blickten mit dem unmissverständlichen Gesichtsausdruck „WIR
steigen HIER nicht aus! Kannst DU voll vergessen!“ Richtung Uniformtante. Diese
wiederholte Ihre liebevolle Ansage, überraschender Weise ohne spürbaren Effekt.
Interessanter Weise habe nicht nur ich, sondern auch zahlreiche andere
Passagiere, schon vollere Züge fahrend erlebt. Ein älterer Herr steht mir
gegenüber und meint, dass der selbe Zug jeden Morgen und jeden Abend mit
deutlich mehr Pendlern gefüllt ist, als gerade jetzt. Schließlich besteht immer
noch die Möglichkeit, sich durch die Gänge zu quetschen und auch übermäßiger
Körperkontakt ist noch gut zu vermeiden. Die Stimmung im Zug selbst ist noch
relativ gelassen – der geballte Hass kanalisiert sich auf die Bahn an sich und
die Zugbegleiterin im Speziellen. Sogar ich bleibe, wenn auch mit nervöser
werdendem Blick auf meine Uhr und einer Mischung aus Schicksalsergebenheit und
Zweckoptimismus, unverhältnismäßig entspannt. Der ICE steht nun schon etwa zehn
weitere Minuten regungslos im Bahnhof, draußen ertönen im unablässigen Wechsel
die verschiedensten Verspätungsansagen über sämtliche Gleise, als sich der
Lokführer zu Wort meldet und mitteilt: „Wir fahren so nicht weiter! Wer jetzt
aussteigt und den nächsten Zug nimmt, bekommt einen fünfundzwanzig Euro
Gutschein von der Bahn.“ (Das lass ich erst mal unkommentiert!) Im Zug hingegen
brach schallendes Gelächter aus. Lediglich eine vierköpfige Damenreisegruppe
begann kurzzeitig darüber zu debattieren, ob sie auf dieses unmoralische
Angebot eingehen sollte. Schließlich waren von der Stunde, die der nächste ICE
Richtung Ruhrpott später kommen sollte, bereits drei Viertel vergangen. Ich
suchte über mein Telefon in der Zwischenzeit alternative Möglichkeiten noch am
selben Tag von Mannheim bis nach Berlin zu gelangen, denn die Hoffnung, meinen
Flug noch zu erreichen, war derweil nahezu gänzlich verschwunden. Die Stimme
des Lokführers erklang erneut und wiederholte die Gutschein-Ansage. Etwa eine
Hand voll Fahrgäste stieg entnervt aus, wodurch auch die Damen aus dem Pott wieder
das Überlegen anfingen und nach einigem Hin und Her ebenfalls den Zug
verließen. Als die ersten zwei wieder festen Boden unter den Füßen hatten,
erklang am Bahnsteig das liebliche Ding-Dong „Der nachfolgende ICE nach
Dortmund, heute voraussichtlich eine Stunde später!“ und – schneller als man
gucken konnte – standen alle vier, in einer Hand den Koffer, die andere wild
gegen die Stirn tippend, wieder im Zug.
Ich schaute auf meine Uhr: noch knapp fünfzig Minuten bis
zum Abflug, davon noch dreißig Minuten offiziell Fahrtzeit. Ich resignierte.
Griff nach meinem Koffer, ging zur Tür, verabschiedete mich bei den Umstehenden
mit einem Lächeln, wünschte viel Erfolg bei der Weiterreise, verfluchte die
Deutsche Bahn, setzte den ersten Fuß auf den Bahnsteig, drehte mich direkt
wieder um, begrüßte die plötzlich freudig erregten Gesichter und nahm exakt die
Position von vor fünfzehn Sekunden wieder ein. Was war passiert? Ich hatte den
Zug noch gar nicht komplett verlassen, als exakt in diesem Moment durch die
Lautsprecheranlage, die „nun doch“ Abfahrt des Zuges angekündigt wurde.
Leichter Beifall brandete auf. Die Türen schlossen sich und der Zug setzte sich
tatsächlich in Bewegung. Die Ansage des Zugkapitäns annoncierte eine Ankunft am
Frankfurter Flughafen gut zwanzig Minuten vor Abflug. Ich schnappte mein
Telefon, wählte die Servicenummer der Lufthansa und landete erstaunlich schnell
bei einer menschlichen Stimme. Ich schilderte ihr meine aktuelle Situation und
bekam die Anweisung, mich bei der Ankunft direkt am erst besten
Lufthansa-Schalter zu melden, damit von dort die Info ans Gate weitergegeben
werden könnte. Ein Hauch von Zuversicht kam zurück. Dennoch fragte ich spontan
nach, was denn wäre, wenn ich „wider Erwarten“ den Flug nicht mehr bekäme und
was mich ein neues Ticket kosten würde. Ich hatte nun also ein halbe Stunde
Zeit, um abzuwägen, ob ich lieber für 300 Euro, dafür aber mit nur einer Stunde
Verspätung, oder aber für 150 Euro, mit der Bahn und im Idealfall mit fünf
Stunden Verspätung, irgendwann nach Mitternacht, zu Hause ankommen wollte. Die
Entscheidung war, anhand des bereits erlebten Zustandes bei der Bahn und dem
nicht geringen Risiko womöglich in Wolfsburg oder Hannover über Nacht zu
stranden, relativ schnell getroffen. Aber noch lebte ja die Hoffnung. Zumindest
bis ins Örtchen Biblis. Wieso ich das so genau sagen kann? Dort legte der ICE
einen extra einen Stopp ein, damit auch jeder das Schild am Bahnsteig in aller
Ruhe lesen konnte. Überflüssig zu erwähnen, dass eine Information vom
Zugpersonal aus blieb. Die Zeit verrann. Nach und nach erzählte jeder der
umstehenden Leidensgenossen seine tagesaktuelle Reisegeschichte: Wo kam man
her? Wo wollte man noch hin? Köln, Kanaren, Madagaskar? Und wie viel Zeit
bleibt noch bis zum Abflug oder zum nächsten Zuganschluss.
Als keiner mehr ernsthaft damit rechnete, fuhr der Zug
doch noch im Frankfurter Flughafenbahnhof ein – mit genau 61 Minuten Verspätung
und neun Minuten vorm Abflug. Ich schnappte, zugegeben wenig hoffnungsvoll,
meinen Koffer und rannte los – vielleicht hat ja der Flieger auch etwas
Zeitrückstand. Wer den Frankfurter Airport kennt, weiß, da ist immer einiges an
Wegstrecke zurückzulegen. Und dennoch stand ich nach ziemlich exakt drei
Minuten, mit knalle rotem Kopf und dem vermutlich freundlichen Gesichtsausdruck
eines Bulldozers, am erst besten Lufthansa Check-In-Schalter. Der Flug war
natürlich schon geschlossen und mir blieb nichts anderes übrig, als mich meinem
Schicksal zu fügen und mich nach der nächsten Heimreisemöglichkeit zu erkunden.
Köfferchen geschnappt, die Rolltreppe wieder nach oben und am Lufthansa-Ticket-Schalter
für die kleine Kleinigkeit von fast dreihundert Euro ein Ticket für den
nächsten, beziehungsweise übernächsten Berlinflieger zu erstehen. Ich hatte nun
also wieder etwas Zeit und beschloss, meine besonders gute Laune noch eben
schnell mit dem immer freundlichen und hilfsbereiten Personal am Service-Point
der Bahn zu teilen. Ich lief also zurück zum Bahnterminal und erklärte dem
armen Kerl hinter dem Schalter, in ruhigen und sachlichen Worten, wie zufrieden
ich mit der Dienstleistung der Bahn wäre, bis dieser auf
Streichholzschachtelgröße zusammengefaltet war und Tränen in den Augen hatte. Ich
griff mir eines der Beschwerdeformulare, ließ mir die Verspätung quittieren und
machte mich grußlos zurück auf den Weg Richtung Check-In. Von da an lief alles
relativ reibungslos. Ich war, trotz einer viertel Stunde Verspätung – who cares?
– am Ende ziemlich genau eine Stunde später und dreihundert Tacken ärmer
endlich in Berlin angekommen und heilfroh, nicht auf die absolut verrückte Idee
gekommen zu sein, von Frankfurt mit dem Zug weiter nach Berlin zu fahren. Ich
wäre vermutlich heute noch nicht wieder zu Hause. Bleibt die spannende Frage,
welche Antwort werde ich von der Bahn auf mein Beschwerdeschreiben und die
Geldrückforderung erhalten …