Donnerstag, 6. November 2014

Ein Buch und sein Gefolge



Es ist jetzt ziemlich genau drei Jahre her, als ich mich im Welterkundungsmodus auf die weite Reise nach Nepal machte. Ich musste einfach mal weg aus Deutschland, raus aus Berlin, den Kopf frei pusten lassen, etwas Neues entdecken, wollte eine mir fremde Kultur erleben und die beeindruckende Natur genießen.  Und was soll ich sagen? Das hat bestens funktioniert. Noch heute könnte ich jedem, mit einem Lächeln im Gesicht und dem berühmten Funkeln in den Augen, von dieser Reise und den Erlebnissen vorschwärmen.  Doch als ich von Frankfurt aus in Richtung Osten flog, konnte ich nicht im Entferntesten ahnen, in welchem viel größeren Zusammenhang diese Reise stehen würde und dass Kapitel Eins dieser Story bereits geraume Zeit vorher geschrieben war.
Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, ich hatte die Reise bereits ein halbes Jahr zuvor gebucht und bekam irgendwann, im Laufe des Sommers, eine Infobroschüre des Reiseveranstalters, in der auch der Name des Reiseleiters notiert war. Und, selbst wenn ich behaupten würde kein allzu gutes Namensgedächtnis zu haben, bildete ich mir ein, den Name des Reiseleiters irgendwo schon mal gelesen, gesehen, gehört zu haben. Allerdings waren mir in meinem Leben bis dahin noch nicht wirklich viele Nepalesen über den Weg gelaufen, oder kannte ich gar welche persönlich. Dennoch grübelte ich eine ganze Weile lang nach, woher mir dieser Name bloß bekannt vor kam. Erfolglos. Die Reise begann und die Namensfrage hatte ich vollständig verdrängt. Und im Rückblick muss ich auch zugeben, selbst das erste Treffen mit Jaya, so hieß unser Reiseleiter, hatte mich des Rätsels Lösung nicht einen Millimeter näher gebracht. Überwältigt von den unglaublich vielen neuen Impressionen und vermutlich auch dem Stress der langen Reise geschuldet, kam die Frage „Woher kenn ich diesen Namen?“ auch bei der Vorstellung nicht wieder auf. So vergingen die ersten Tage beim Sightseeing in der Hauptstadt Kathmandu und beim Trekking durch den Himalaya, ohne zu ahnen, dass ich mich bereits Mitten im zweiten Kapitel dieser Story befand.
Doch eines Abends, nach einer wieder einmal eindrucksvollen, langen Wandertour durch das Tal des Kali Gandaki Fluss, im Schatten der zwei Achttausendergipfel von Annapurna und Dhaulagiri, saß die Gruppe erschöpft, aber zufrieden zusammen in der Lodge. Frisch gestärkt nach dem Abendessen, plauderte man über das Erlebte, andere lasen und erholten sich dabei, im wohlig kaminwarmen Gemeinschaftsraum, bei Tee und ab und an einem Bier, von den Strapazen des Tages. Die im Raum schwebende Müdigkeit tauchte selbigen in stetig zunehmende Gemütlichkeit und Ruhe, bis plötzlich eine Frau aus der Wandergruppe ihr Buch auf den Tisch legt. Göttin auf Zeit, von Gerhard Haase-Hindenberg beschreibt das Schicksal eines Mädchens, das als Teil des Hinduismus, als Kumari, als Göttin verehrt, aber abgeschnitten von der Außenwelt, in einer Tempelanlage in Kathmandu verbringt. Bis zu dem Tag, an dem mit ihrer Kindheit auch ihre göttliche Existenz endet und sie vollkommen unvorbereitet, in ein ihr völlig fremdes Leben geworfen wird. Zufälliger Weise saß die Buchbesitzerin direkt neben Jaya – ich registrierte alles nur im Augenwinkel – der augenblicklich große, vor Stolz strahlende Augen bekam  und mit kräftiger Stimme in die Runde rief: „Ich habe an dem Buch mitgeschrieben!“. Alle anderen Gespräche verstummten umgehend und die Aufmerksamkeit wandte sich in die hintere rechte Ecke des Raumes, wo die beiden saßen. Auch ich drehte mich in deren Richtung und sah Jaya, mit dem Buch in beiden Händen, dieses stolz wie Oskar in die Runde zeigend. Und ich traute meinen Augen nicht und ohne groß etwas zu denken, entfuhr mir: „Und ich habe das Buch gemacht!“ Von jetzt auf gleich war also wieder Leben in der Bude und Jaya und ich erzählten jeweils unseren Teil der Geschichte. Während Jaya als Übersetzer und Interviewer maßgeblich inhaltlichen Anteil an dem Buch hatte, konnte ich berichten, wie ich als Praktikant in der Herstellung eines Münchner Belletristik Verlags die Umsetzung, Gestaltung und Produktion des Buches betreut hatte. „Die Welt ist ein Dorf!“ war schon bald aus dem Off der Gruppe zu hören. Und just in diesem Moment fiel mir natürlich auch wieder ein, woher ich den Namen unseres Reiseleiters kannte. Dieser Stand im Vorwort des Buches unter einem Zitat geschrieben Jaya Krishna Nhuchhe Pradhan. Daraufhin gönnten wir uns ein gemeinsames Everest-Bier und einen Reisschnaps.
Zwischen Kapitel Eins und Zwei lagen etwa viereinhalb Jahre. Ich befand mich damals Mitten im Studium und sammelte erste berufliche Erfahrungen in der Verlagswelt. Und wie bereits erwähnt, hatte es mich damals für ein halbes Jahr nach München verschlagen. Dort durfte ich an Büchern von Stephen King, Dieter Hildebrandt, Nora Roberts, Stieg Larsson, Dean Koontz, Harry Rowohlt, Richard Laymon und John Grisham mitwirken, einige davon sogar selbst gestalten. Darunter eben auch die Göttin auf Zeit von Gerhard Haase-Hindenberg. Einige „meiner“ Bücher durfte ich damals als Trophäen mit nach Hause nehmen und so füllen diese bis heute zahlreich meine Regale. Zugegeben: Die Göttin auf Zeit stand bis zu meiner Nepalreise ungelesen und vergessen im Regal herum. Doch nach der Rückkehr wurde das Buch natürlich zur Pflichtlektüre. Anschließend verschwand es wieder im Bücherregal und geriet, ebenso wie der Name des Autors, im Laufe der Zeit immer weiter in Vergessenheit. Mit Jaya hingegen hielt ich – wenn auch nur sporadisch über Facebook und E-Mail –über die Jahre hinweg den Kontakt ans andere Ende der Welt.
Doch vor ein paar Monaten erhielt ich eine E-Mail aus Nepal, die über den üblichen Smalltalk – Wie geht’s? Was gibt es Neues? Viele Grüße – hinaus, mit einer echten Überraschung aufwartete. Jaya hat die Chance erhalten, für einen Deutschkurs nach Deutschland, nach Berlin zu kommen und er wollte sogar seine Familie mitbringen. Die Frage, ob er mit seiner Familie vielleicht eine Nacht bei mir verbringen dürfte und ich ihnen einen Tag lang die Stadt zeigen würde, konnte ich natürlich nicht ablehnen. Ich holte die vierköpfige Familie also am Bahnhof ab, quartierte sie bei mir ein und spielte am nächsten Tag Stadtführer. Ku’Damm, Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Reichstagsgebäude, Alex, Bootstour, 100er Bus und Currywurst, mehr war an einem Tag nicht zu schaffen. Als wir dann wieder bei mir angekommen waren, stellte ich die Frage, wo sie denn die nächsten Tage übernachten würden. „Bei einem Freund, bei Hase“ lautete die Antwort und das nahm ich so erst mal zur Kenntnis. Jaya kramte in seinem Notizbüchlein, suchte die Telefonnummer heraus und versuchte jemanden zu erreichen. Erfolglos. Mein Gedanken drehten sich vor allem darum: „Hoffentlich müssen wir jetzt nicht noch mit den vier schweren Koffern einmal quer durch die ganze Stadt“; „Vielleicht kann der Freund sie sogar mit dem Auto abholen“. Jaya versuchte ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal seinen Freund anzurufen. Aber alles was zu hören war, war eine Bandansage. Ich schnappte also mein Telefon und bot an es mal mit dem einheimischen Netz zu versuchen. Jaya schob mir sein Notizbüchlein rüber, tippte mit dem Finger auf die Telefonnummer und meinte: „Haase, das ist der Autor von Göttin auf Zeit“. Ich schaute zu ihm rüber und erinnerte ihn, dass ich an dem Buch ja auch nicht ganz unbeteiligt war, woraufhin ihm auch gleich die Geschichte aus Nepal wieder einfiel. Ich tippte die Nummer von Gerhard Haase-Hindenberg in mein Telefon und sollte in wenigen Augenblicken, nach etwa sieben oder acht Jahren, aus heiterem Himmel mit dem Autor telefonieren, dessen Buch ich vor eben dieser Zeit zum Buch habe werden lassen. Verrückt! Und wie zum Beweis, dass nicht nur die ganze Welt, sondern auch Berlin, ein einziges Dorf ist, stellte sich heraus, dass Haase-Hindenberg zu allem Überfluss nur eine S-Bahn-Station entfernt wohnt. Also alles eingepackt, die Koffer, die Kids und die ganze Familie geschnappt, ab zur S-Bahn und wenige Minuten später standen sich plötzlich Autor, Übersetzer und Hersteller am Bahnsteig vereint gegenüber.  Nach einer herzlichen Begrüßung, verriet Jaya Haase was wir denn gemeinsam hätten und so konnte ich die ganze Geschichte ausführlich erzählen. Gerhard staunte natürlich auch nicht schlecht und erzählte wenig später von seinem aktuellen Buch „Sex im Kopf“, seinem bevorstehenden Besuch bei Markus Lanz und der Verfilmung seines Buches „Der Mann der die Mauer öffnete“ der, aus gegebenem Anlass, unter dem Titel „Bornholmer Straße“, gerade im Fernsehen lief. Am Ende standen wir alle zusammen in dem Zimmer, in dem unsere gemeinsame Geschichte begann. In der Mitte von uns der Schreibtisch, an dem die „Göttin auf Zeit“ geschrieben wurde.