Es ist jetzt ziemlich genau drei Jahre her, als
ich mich im Welterkundungsmodus auf die weite Reise nach Nepal machte. Ich
musste einfach mal weg aus Deutschland, raus aus Berlin, den Kopf frei pusten
lassen, etwas Neues entdecken, wollte eine mir fremde Kultur erleben und die
beeindruckende Natur genießen. Und was
soll ich sagen? Das hat bestens funktioniert. Noch heute könnte ich jedem, mit
einem Lächeln im Gesicht und dem berühmten Funkeln in den Augen, von dieser
Reise und den Erlebnissen vorschwärmen. Doch als ich von Frankfurt aus in Richtung
Osten flog, konnte ich nicht im Entferntesten ahnen, in welchem viel größeren
Zusammenhang diese Reise stehen würde und dass Kapitel Eins dieser Story
bereits geraume Zeit vorher geschrieben war.
Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, ich hatte die
Reise bereits ein halbes Jahr zuvor gebucht und bekam irgendwann, im Laufe des
Sommers, eine Infobroschüre des Reiseveranstalters, in der auch der Name des
Reiseleiters notiert war. Und, selbst wenn ich behaupten würde kein allzu gutes
Namensgedächtnis zu haben, bildete ich mir ein, den Name des Reiseleiters
irgendwo schon mal gelesen, gesehen, gehört zu haben. Allerdings waren mir in
meinem Leben bis dahin noch nicht wirklich viele Nepalesen über den Weg
gelaufen, oder kannte ich gar welche persönlich. Dennoch grübelte ich eine
ganze Weile lang nach, woher mir dieser Name bloß bekannt vor kam. Erfolglos.
Die Reise begann und die Namensfrage hatte ich vollständig verdrängt. Und im
Rückblick muss ich auch zugeben, selbst das erste Treffen mit Jaya, so hieß
unser Reiseleiter, hatte mich des Rätsels Lösung nicht einen Millimeter näher
gebracht. Überwältigt von den unglaublich vielen neuen Impressionen und
vermutlich auch dem Stress der langen Reise geschuldet, kam die Frage „Woher
kenn ich diesen Namen?“ auch bei der Vorstellung nicht wieder auf. So vergingen
die ersten Tage beim Sightseeing in der Hauptstadt Kathmandu und beim Trekking durch
den Himalaya, ohne zu ahnen, dass ich mich bereits Mitten im zweiten Kapitel dieser
Story befand.
Doch eines Abends, nach einer wieder einmal eindrucksvollen,
langen Wandertour durch das Tal des Kali Gandaki Fluss, im Schatten der zwei
Achttausendergipfel von Annapurna und Dhaulagiri, saß die Gruppe erschöpft,
aber zufrieden zusammen in der Lodge. Frisch gestärkt nach dem Abendessen,
plauderte man über das Erlebte, andere lasen und erholten sich dabei, im wohlig
kaminwarmen Gemeinschaftsraum, bei Tee und ab und an einem Bier, von den Strapazen
des Tages. Die im Raum schwebende Müdigkeit tauchte selbigen in stetig
zunehmende Gemütlichkeit und Ruhe, bis plötzlich eine Frau aus der Wandergruppe
ihr Buch auf den Tisch legt. Göttin auf Zeit, von Gerhard Haase-Hindenberg
beschreibt das Schicksal eines Mädchens, das als Teil des Hinduismus, als
Kumari, als Göttin verehrt, aber abgeschnitten von der Außenwelt, in einer
Tempelanlage in Kathmandu verbringt. Bis zu dem Tag, an dem mit ihrer Kindheit
auch ihre göttliche Existenz endet und sie vollkommen unvorbereitet, in ein ihr
völlig fremdes Leben geworfen wird. Zufälliger Weise saß die Buchbesitzerin
direkt neben Jaya – ich registrierte alles nur im Augenwinkel – der
augenblicklich große, vor Stolz strahlende Augen bekam und mit kräftiger
Stimme in die Runde rief: „Ich habe an dem Buch mitgeschrieben!“. Alle anderen
Gespräche verstummten umgehend und die Aufmerksamkeit wandte sich in die
hintere rechte Ecke des Raumes, wo die beiden saßen. Auch ich drehte mich in
deren Richtung und sah Jaya, mit dem Buch in beiden Händen, dieses stolz wie
Oskar in die Runde zeigend. Und ich traute meinen Augen nicht und ohne groß
etwas zu denken, entfuhr mir: „Und ich habe das Buch gemacht!“ Von jetzt auf
gleich war also wieder Leben in der Bude und Jaya und ich erzählten jeweils
unseren Teil der Geschichte. Während Jaya als Übersetzer und Interviewer
maßgeblich inhaltlichen Anteil an dem Buch hatte, konnte ich berichten, wie ich
als Praktikant in der Herstellung eines Münchner Belletristik Verlags die
Umsetzung, Gestaltung und Produktion des Buches betreut hatte. „Die Welt ist
ein Dorf!“ war schon bald aus dem Off der Gruppe zu hören. Und just in diesem
Moment fiel mir natürlich auch wieder ein, woher ich den Namen unseres
Reiseleiters kannte. Dieser Stand im Vorwort des Buches unter einem Zitat
geschrieben Jaya Krishna Nhuchhe Pradhan. Daraufhin gönnten wir uns ein
gemeinsames Everest-Bier und einen Reisschnaps.
Zwischen Kapitel Eins und Zwei lagen etwa viereinhalb Jahre.
Ich befand mich damals Mitten im Studium und sammelte erste berufliche
Erfahrungen in der Verlagswelt. Und wie bereits erwähnt, hatte es mich damals
für ein halbes Jahr nach München verschlagen. Dort durfte ich an Büchern von
Stephen King, Dieter Hildebrandt, Nora Roberts, Stieg Larsson, Dean Koontz, Harry
Rowohlt, Richard Laymon und John Grisham mitwirken, einige davon sogar selbst
gestalten. Darunter eben auch die Göttin auf Zeit von Gerhard Haase-Hindenberg.
Einige „meiner“ Bücher durfte ich damals als Trophäen mit nach Hause nehmen und
so füllen diese bis heute zahlreich meine Regale. Zugegeben: Die Göttin auf
Zeit stand bis zu meiner Nepalreise ungelesen und vergessen im Regal herum.
Doch nach der Rückkehr wurde das Buch natürlich zur Pflichtlektüre. Anschließend
verschwand es wieder im Bücherregal und geriet, ebenso wie der Name des Autors,
im Laufe der Zeit immer weiter in Vergessenheit. Mit Jaya hingegen hielt ich –
wenn auch nur sporadisch über Facebook und E-Mail –über die Jahre hinweg den
Kontakt ans andere Ende der Welt.
Doch vor ein paar Monaten erhielt ich eine E-Mail aus
Nepal, die über den üblichen Smalltalk – Wie geht’s? Was gibt es Neues? Viele
Grüße – hinaus, mit einer echten Überraschung aufwartete. Jaya hat die Chance
erhalten, für einen Deutschkurs nach Deutschland, nach Berlin zu kommen und er
wollte sogar seine Familie mitbringen. Die Frage, ob er mit seiner Familie
vielleicht eine Nacht bei mir verbringen dürfte und ich ihnen einen Tag lang
die Stadt zeigen würde, konnte ich natürlich nicht ablehnen. Ich holte die
vierköpfige Familie also am Bahnhof ab, quartierte sie bei mir ein und spielte
am nächsten Tag Stadtführer. Ku’Damm, Potsdamer Platz, Brandenburger Tor,
Reichstagsgebäude, Alex, Bootstour, 100er Bus und Currywurst, mehr war an einem
Tag nicht zu schaffen. Als wir dann wieder bei mir angekommen waren, stellte
ich die Frage, wo sie denn die nächsten Tage übernachten würden. „Bei einem
Freund, bei Hase“ lautete die Antwort und das nahm ich so erst mal zur
Kenntnis. Jaya kramte in seinem Notizbüchlein, suchte die Telefonnummer heraus
und versuchte jemanden zu erreichen. Erfolglos. Mein Gedanken drehten sich vor
allem darum: „Hoffentlich müssen wir jetzt nicht noch mit den vier schweren
Koffern einmal quer durch die ganze Stadt“; „Vielleicht kann der Freund sie
sogar mit dem Auto abholen“. Jaya versuchte ein zweites, ein drittes, ein
viertes Mal seinen Freund anzurufen. Aber alles was zu hören war, war eine
Bandansage. Ich schnappte also mein Telefon und bot an es mal mit dem
einheimischen Netz zu versuchen. Jaya schob mir sein Notizbüchlein rüber,
tippte mit dem Finger auf die Telefonnummer und meinte: „Haase, das ist der
Autor von Göttin auf Zeit“. Ich schaute zu ihm rüber und erinnerte ihn, dass
ich an dem Buch ja auch nicht ganz unbeteiligt war, woraufhin ihm auch gleich
die Geschichte aus Nepal wieder einfiel. Ich tippte die Nummer von Gerhard
Haase-Hindenberg in mein Telefon und sollte in wenigen Augenblicken, nach etwa
sieben oder acht Jahren, aus heiterem Himmel mit dem Autor telefonieren, dessen
Buch ich vor eben dieser Zeit zum Buch habe werden lassen. Verrückt! Und wie
zum Beweis, dass nicht nur die ganze Welt, sondern auch Berlin, ein einziges
Dorf ist, stellte sich heraus, dass Haase-Hindenberg zu allem Überfluss nur
eine S-Bahn-Station entfernt wohnt. Also alles eingepackt, die Koffer, die Kids
und die ganze Familie geschnappt, ab zur S-Bahn und wenige Minuten später
standen sich plötzlich Autor, Übersetzer und Hersteller am Bahnsteig vereint
gegenüber. Nach einer herzlichen
Begrüßung, verriet Jaya Haase was wir denn gemeinsam hätten und so konnte ich
die ganze Geschichte ausführlich erzählen. Gerhard staunte natürlich auch nicht
schlecht und erzählte wenig später von seinem aktuellen Buch „Sex im Kopf“,
seinem bevorstehenden Besuch bei Markus Lanz und der Verfilmung seines Buches
„Der Mann der die Mauer öffnete“ der, aus gegebenem Anlass, unter dem Titel „Bornholmer
Straße“, gerade im Fernsehen lief. Am Ende standen wir alle zusammen in dem
Zimmer, in dem unsere gemeinsame Geschichte begann. In der Mitte von uns der
Schreibtisch, an dem die „Göttin auf Zeit“ geschrieben wurde.