Freitag, 6. Februar 2015

Ich bin die Word-Datei

Ich muss gestehen, ich bin gescheitert! Auf ganzer Linie. Aber ich muss mir – beim besten Willen – wirklich nicht vorwerfen, ich hätte nicht alles versucht. Doch es wäre in diesem Fall viel zu einfach, den Grund meines Scheiterns bei anderen zu suchen. Und wenn ich sage: viel zu einfach, dann ist das die maximalste Untertreibung die mir einfällt.
Wir alle wissen ja, dass es irgendwo da draußen Menschen gibt von denen man behauptet sie seien dumm wie Brot. Solche Erscheinungen kann man zu Hauf im Vor- und Nachmittagsprogramm der privaten TV-Sender betrachten. Aber das ist Fernsehen, das ist nicht die Realität und man kann sich zumindest einreden, das wäre alles nur gespielt. Dennoch muss ich heute zu dem Schluss kommen, es gibt sie wirklich, Menschen bei denen jeder Versuch ihnen etwas beizubringen, begreiflich zu machen, Informationen zu vermitteln ins absolute Nichts läuft. Aber diese Gestalten können ja nix dafür, dass sie so sind, wie sie sind. Deswegen ist eindeutig der Schuld, der nicht in der Lage ist ihnen dennoch etwas zu erklären. Ich gehöre seit heute dazu!
Und da ich nun ganz offiziell so jemanden kenne, stellen sich mir genau drei Fragen: 1.) wie, verdammt noch mal, im Arsch ist unser Bildungssystem, wenn so jemand es auch noch irgendwie zum Abitur geschafft hat? 2.) Merken diese Menschen eigentlich, dass sie in der Glockenkurve der Gaußschen Normalverteilung im ziemlich flachen Wasser schwimmen? Und 3.) Was macht man mit denen? Gedächtnis wie ein Sieb, nur die Löcher größer!
Meine Herausforderung besteht – nun schon seit einigen Wochen – darin, der Jugend der Welt nahezubringen, was ich beruflich so tue und was man alles so wissen könnte und idealerweise auch sollte, wenn man sich dazu entschieden hat einen iwmM-Beruf (irgendwas-mit-Medien) zu ergreifen. Ich muss zugeben, einem außenstehenden zu erklären, was ich beruflich genau mach‘, fällt auch mir nicht immer ganz leicht. Der Einfachheit halber muss ich das daher immer nur einem Menschenkind erklären, darf mir diese Aufgabe mit anderen Teilen und es steht dafür ein Zeitraum von drei bis vier Monaten zur Verfügung. Wie gesagt, dass ist für Neulinge wahrscheinlich nicht alles auf Anhieb leicht zu durchschauen, aber jetzt auch keine geheime Wissenschaft, die man nicht zumindest nach ein paar Wochen wenigstens grob überblicken kann. Vieles davon ist simples Abarbeiten von einfachen Handgriffen, für die es auch zahlreiche idiotensichere Anleitungen mit bunten Bildern und einfachen Texten gibt. Einzige Voraussetzung dafür, eine minimal größere Aufmerksamkeitsspanne als eine Fliege, die drei Mal in der Sekunde gegen eine Fensterscheibe fliegt und sich absolut nicht daran erinnern kann, woher sie die Kopfschmerzen hat.
Zudem bin ich ein durchaus geduldiger Mensch und als ich – recht frühzeitig – das geistige Potential der Anzulernenden erkannt hatte, war ich gern bereit auch die einfachsten Schritte zwei/drei/viermal zu zeigen und zu erklären, habe dieselben naiven Fragen mehrfach beantwortet und wollte die Hoffnung partout nicht aufgeben, dass die Erleuchtung irgendwann eintritt. Bei manchen fällt der Groschen halt Cent-weise. Immerhin suggerierte ein regelmäßiges, fiependes „mhh-mhh“ plus Kopfnicken während der Erklärungen, dass einzelne Schritte verstanden wurden. Wie sich herausstellte ein Irrglaube, denn das „mhh-mhh“ bedeutete nicht „aha“ oder „ja“ oder „verstehe“, sondern es hieß „ich bin noch hier und ich höre auch noch irgendwie zu, aber draußen scheint die Sonne und der Mauszeiger … hihi“. Also eher ein akustischer Totmann-Schalter, der alle paar Sekunden ertönt, damit man sicher gehen kann, dass nicht zwischenzeitlich in den Standby-Modus geschaltet wurde.
Da sich Erklären nicht wirklich als die perfekte Methodik herausgestellt hat um Informationen nachhaltig an das Stammhirn weiterzugeben, schließlich gibt es ja die unterschiedlichsten Lerntypen, startete ich einen neuen Versuch, Prinzip Problemlösung selbst erarbeiten. Relativ simple Aufgabe: Erstellen, Aufzeichnen eines Produktionsprozess-Ablaufplans. Auf gut deutsch: Malen Sie auf, welche Arbeitsschritte vom Anfang bis zum Ende durchzuführen sind. Fünf Wochen lang wurde gezeigt, erklärt, gezeigt, erklärt, gezeigt, erklärt, durfte selbst ausprobiert werden und wurde nochmal gezeigt und erklärt was nach und nach und warum getan wird. Als kleine Hilfe gab es einen bereits bestehenden Prozessplan (nicht mehr ganz 100%ig aktuelle, aber als Grundlage eigentlich schon fast zu viel des Guten), die Produktionsanleitung und die To-do-Liste.
Kennt ihr das, wenn man jemandem gegenübersteht, ihm etwas erzählt, er freundlich lächelt, aber man sich dabei selber unsicher wird, ob man nicht ausversehen plötzlich klingonisch spricht. So in etwa ist es mir ergangen als ich die Aufgabenstellung erläuterte. Als ich dann zum Ende sicherheitshalber nachfragte: „Aufgabe klar? Alles verstanden? Oder noch Fragen?“ und als Antwort erhielt: „Nö, alles gut!“, ließ ich mich, nach einem kurzen Stoßgebet, in meinen Bürostuhl sinken und hoffte das Beste. Gelegentlich schaute ich über meinen Monitor hinweg, um zu sehen, ob sich da etwas entwickelt, oder ob massive Fragezeichen im Raum schwebten. Als mich dann irgendwann das Gefühl beschlich, es stockt etwas … das Verhalten erinnert mich ein wenig an eine Katze, die wie hypnotisiert vor dem Aquarium sitz … wurde mir auf Nachfrage ein erster Ansatz des Prozessablaufplans vorgelegt, woraufhin es mir schwer fiel, die Contenance zu wahren und nicht loszuplärren: „Was soll’n die Scheiße?“. Tief durchatmen. „Also die Aufgabe war etwas anders gedacht.“ – in der Schule hätte es geheißen „Thema verfehlt“. Erklärungsversuch die Zweite: „Also am besten, sie  fangen am Anfang an und überlegen sich, wie das Endprodukt aussieht und anschließend ergänzen sie, welche Schritte von A bis Z notwendig sind. Ich zeig Ihnen das an einem Beispiel“.
„Okay“. – „Ist jetzt klar, was sie tun sollen?“ – Es kommt eine Nachfrage, die diese Frage klar mit nein beantwortet. In dem Moment erinnere ich mich, dass ich kürzlich drei Lehrbücher in der Hand hielt „Skikurs für Vorschulkinder“, „Skikurs für Grundschulkinder“, „Skikurs für Schulkinder“. Und glücklicher Weise hatte ich auch darin geblättert und hatte somit direkt einen neuen Lehransatz. Um das Niveau zu verdeutlichen, hier kurz die Beispiele, wie den Ski-kids das Kurvenfahren erklärt wurde: Vorschulkind: „Du bist ein Rennauto und fährst um die Fähnchen herum“; Grundschulkind: „Weißt du wie sich eine Schlange bewegt? Du fährst wie eine Schlange um die Stangen herum“; Schulkind: „Du fährst in einem gleichmäßigen Radius um die Torstangen herum“.
Ich wollte kein unnötiges Risiko eingehen und wählte die Vorschul-Variante. Ich erklärte die Aufgabenstellung also wie folgt: „Stellen Sie sich vor, Sie sind das Manuskript, die Word-Datei. Aus Ihnen soll ein Buch werden. Was passiert mit Ihnen, von dem Zeitpunkt wo Sie in den Verlag kommen, bis Sie ein Buch sind?“.
Eine Stunde später, nachdem ich noch erfahren durfte, dass sich diese Woche (es war Donnerstag) aber mächtig zieht, war der Akku offensichtlich leer und die Erstellung des Ablaufplans wurde eigenständig auf den nächsten Tag verlegt. Ich schaute etwas verwundert, als ich nach einer kurzen Besprechung wieder in mein nun verwaistes Büro zurückkam. Aber ich wollte doch zumindest noch wissen, wie weit die Aufgabe vorangeschritten war und warf einen Blick auf den Schreibblock – eine fast leere Seite starrte mich an. Ich blätterte vor und zurück. Nichts weiter aus der fast leeren Seite. Ganz oben Stand nur ein Satz: „Ich bin die Word-Datei“.