Mittwoch, 18. November 2015

Tod der Meinungsfreiheit

Ehrlich gesagt, ich bin langsam überfordert. Wem oder auf was kann man heute eigentlich noch trauen, außer dem eigenen Gewissen? Doch selbst das fällt immer schwerer. Sobald man glaubt, seine eigene Meinung, Lösung oder Antwort gefunden zu haben, wird man von allen Seiten mit anderen Wahrheiten bespuckt. Sei es das widerliche Propagandageschwätz einiger geistiger Tiefflieger, die von den Medien dahingerotzte, immer nach der reißerischsten Schlagzeile und größeren Gefällt-mir-Klicks-Anzahl lechzende, denkfrei vorgefertigte Meinung oder auch nur die belehrend-klugscheißerische ich-muss-überall-meinen-Senf-dazugeben Allwissenheit von Social-Media-Geistern.  Von wegen „Bild dir deine Meinung“ … friss meine Weisheit oder stirb! scheint das gültige Motto zu lauten.
Am leichtesten ist dabei definitiv der Umgang mit den Überzeugungen der Schwachmaten – egal ob Nazi oder religiöser Fanatiker. Deren Gedankengänge kann und werde und will ich im Grunde auch gar nicht verstehen, auch wenn die Fragen nach dem Warum? und Wieso? immer wieder auftauchen werden. Wer derart menschenverachtend „denkt“ und handelt, dem ist sowieso nicht zu helfen.
Weitaus beängstigender ist für mich das, was die Massenmedien so treiben. Da wird im Sekundentakt auf Basis von Vermutungen Stimmung gemacht, ohne auch nur einen Augenblick über die Tragweite des Gesagt- oder Geschriebenen nachzudenken. Oder eben vielleicht doch (?) nur eben nicht im Sinne der Vernunft, sondern im Sensationswahn – Lauter, Schneller, Härter – ohne Rücksicht auf Verluste.

„Es gibt keinen Unsinn, den man der Masse nicht durch geschickte Propaganda mundgerecht machen könnte.“ (Bertrand Russell)

Mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs werden vage Vorahnungen als Fakten über den Liveticker gejagt und die Themen, unter dem Deckmantel der journalistischen Informationspflicht, bis in die letzte Ecke ausgehöhlt. Dinge, bei denen man sich fragt: Ist das wirklich wichtig? Will ich das Wissen? Was soll ich mit dieser Information anfangen? Sind wir Menschen wirklich so sensationsgeil, dass wir uns an verwackelten Handybildern vom Tatort, herumliegenden Opfern, verstörten Augenzeugen, zutiefst traurigen Angehörigen oder unter extremsten Bedingungen arbeitenden Sicherheits- und Rettungskräften ergötzen müssen?
Die Medien lassen uns heute keine Zeit mehr zum Nachdenken, zum Luftholen, zum Begreifen. Ob sekündliche Sondersendungen auf allen Kanälen, Breaking News, Liveticker, Facebook-Posts, Tweets und Hashtags – Sozial-ADHS. Und dann kommt da so ein Fernsehkasper und stellt einfach mal so 100 offene Fragen in den Raum, teils hilflos, teils zynisch, teils einfach nur erschütternd ehrlich und irgend so einem Klatschpappen-Redakteur fällt nichts Besseres ein, als diese Fragen krampfhaft kläglich, mit Dampfhammer Witz, bei dem selbst Mario Barth als Humorfeingeist wirkt, dafür aber ohne jegliches Taktgefühl und Nachdenken in seine Tastatur zu kloppen und in DIE WELT hinauszuschießen.
Und dann dieses heuchlerische Mitgefühl, plötzlich sind wir alle Charlie oder Paris, denn es sind ja „Auch Deutsche unter den Opfern“. Dann haben wir gefälligst auch alle betroffen zu sein. Wenn sich aber in Afrika die Neger untereinander niedermetzeln oder sich die Alis in der arabischen Welt gegenseitig in die Luft sprengen (an dieser Stelle entschuldige ich mich für meinen Zynismus und die bewusst provokante Wortwahl), dann ist das in den News von heute vielleicht noch eine Kurzmeldung wert, morgen aber schon wieder verdrängt. Einhundert sinnlose Opfer bleiben einhundert sinnlose Opfer, egal wo auf dieser Welt. Auch wenn es nicht einfach ist, wir dürfen uns nicht von dieser einseitigen Berichterstattung – oder soll ich besser medialen Propaganda sagen – vereinnahmen lassen und blind und unreflektiert irgendetwas nachplappern, nur weil es in irgendeiner Zeitung steht oder von einem C-Promi getwittert wurde. Denn „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung […]“ (Artikel 19, UN-Menschenrechtscharta). Das bedeutet aber auch, dass jeder frei rausposaunen kann, was er will und sei es der größte Unfug.
Darüber hinaus heißt das aber auch, dass jeder das Recht hat, sich seine eigene Meinung zu bilden und diese kundtun darf, aber – jetzt kommt`s – nicht zwangsläufig auch kundtun muss. Und Meinung heißt nicht gleichzeitig auch Wahrheit!
Wenn jetzt also jemand auf Facebook seine Gedanken und nicht nur ein ganz „zufällig“, unter Zuhilfenahme eines extra dafür produzierten Stabes, geknipstes Selfie, postet, dann kannst du dem zustimmen oder auch nicht. Dann kannst du sogar noch schreiben, dass du das ganz anders siehst. Aber in den meisten Fällen (diese Einschränkung muss man leider machen) musst du dich weder direkt persönlich angegriffen fühlen, dich als allwissender Klugscheißer gebären, geschweige denn rumpöbeln, was das Zeug hält. Ja, es ist nicht ganz leicht irgendwo in den „sozialen Medien“ etwas von sich zu geben, ohne dass sich davon jemand gleich auf den Schlips getreten fühlt und der Grat zwischen "Das wird man wohl noch sagen dürfen" und "was gesagt werden muss" wird zusehends schmaler. Was dagegen hilft? „Erst denken, dann schreiben!“ (hat mir meine Mutter beigebracht) und am besten noch einmal tief durchatmen oder im Zweifel „einfach mal die Fresse halten“.

„Da wir uns miteinander nur durch das Wort zu verständigen vermögen, verrät, wer es fälscht, die menschliche Gemeinschaft. Es ist das einzige Mittel, durch das wir unseren Willen und unsere Gedanken austauschen, es ist der Mittler unserer Seele. Wenn wir es verlieren, so haben wir keinen Zusammenhang und keine Kenntnis mehr voneinander. Wenn es uns betrügt, so zerstört es allen unseren Umgang und zerreißt alle Bande unserer Gesellschaft.“ (Michel de Montaigne)

PS: Hier hätte fast noch ein Absatz gestanden, in dem es um die „Meinungsäußerungen“ einiger Politiker u. ä. gegangen wäre. Ich habe mich aber dazu entschieden, mich in diesem Blog generell nicht direkt politisch zu äußern. Bin mir aber sicher, meine Haltung zu bestimmten Themen ist trotz allem deutlich genug zu erkennen.