Ich sitze im Zug. Genauer gesagt im ICE nach Hause. Es ist
Freitagnachmittag und die Sitzplätze entsprechend gut belegt. Den Zug habe ich
mit Ach und Krach noch erwischt. Teils selbstverschuldet (manchmal ist es echt
klug, wenn man vorab nochmal die Abfahrtszeit checkt), teils dank der flexiblen
Fahrbereitschaft der Berliner Schnellbahn. Endlich am Bahnhof angekommen, sprinte
ich durch selbigen und sprenge, auf dem Weg zu Gleis 2, mit vollem Einsatz noch
eine größere sächsische Reisegruppe, die nun vermutlich in ihre
Einzelteile zerlegt – ei verbibsch nochemol – willenlos durch die Hauptstadt
irrt, bevor ich mit einem beherzten Schlussspurt durch und über diverse
Hindernisse hinweg (Fastfood-Essensreste, Rollkoffer, Kinderwagen) elegant an
der, schon mit Trillerpfeife im Mund, aber noch auf dem Bahnsteig stehenden,
Zugbegleiterin vorbei in Wagen 23 springe.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir: zwei Minuten zu spät!
Aber bei der Deutschen Bahn gilt das noch als überpünktlich und ausreichend.
Weitere drei Minuten später ertönt ein Pfiff und das charakteristische
Quietschen der Zugtüren. Wir rollen los.
Währenddessen stolpere ich mit vermutlich leicht gerötetem
Teint und leicht transpirierend auf der Suche nach einem Sitzplatz durch den
Wagon. Nicht so einfach. Überall leuchten die Reservierungen auf und vor mir
schlurft ein älteres Pärchen (Rentner) mit großem Koffer – sie sieht schlecht,
er hört genauso gut – durch den Gang, überrollen dabei mehrere linke und rechte
Füße und reißen unzählige Armlehnen mit sich. Sie suchen ihre reservierten
Sitzplätze... diese befinden sich allerdings in Wagen 28! Doch bis zu der
Erkenntnis wird es noch etwas dauern.
In ihrem Windschatten erspähe ich auf der rechten Seite
einen leeren Sitzplatz, der erst nach meinem Zielort reserviert und somit zum
Glück tatsächlich noch frei ist. Der Kerl am Fenster – Typ Vertreter – hat sich
bereits in seinen Kokon aus Unterhaltungselektronik gehüllt. Einzige Reaktion auf
meine Platzwahl: Er tackert seinen linken Arm noch fester auf die mittlere
Armlehne. Meine! Ansonsten, Bewegungslosigkeit und Ignoranz.
Ich tue es ihm gleich, krame ein Buch aus der Tasche –
erstmal Revier markieren – bloppe die Kopfhörer in die Ohren und wurschtel mein
Smartphone aus der Hosentasche (bin schließlich auch extrem busy und
wichtig!!!). So sitze ich nun, immer noch den Spurt quer durch den Hauptbahnhof
verarbeitend, halb über der linken Armlehne am Gang hängend, auf Platz 38.
"Leidies und Tschentelmän, welkam on bord off
Ei-Sie-Iee to Mjunik weia Bitterfeld, Naumburg änd ..." na Hauptsache die
Landschaft ist schön "... in ä fju minetz wie will arreif ett auer next
stop". Alleine während dieser Ansage wird mein linker Ellenbogen (zur
Erinnerung: der am Gang), sage und schreibe dreizehn Mal von diversen Taschen,
Hüften, Jacken, breiten Hüften sowie anderen Körperteilen und Gegenständen
malträtiert. Darunter vier Mal die Gürtel-/Bauchtasche eines vor sich hin
brabbelnden desorientierten Russen. Der Business-Heini neben mir schaut
inzwischen "the big bang theory".
Als sich das allgemeine Tohuwabohu im Abteil etwas gelegt
hat, nur noch das obligatorische Schreikind und Handygespräch zu hören ist,
fällt mir das große WiFi Symbol an der sich dennoch ständig öffnenden Glastür ins
Blickfeld. Ich erinnere mich an die vollmundigen Versprechungen der Bahn
"kostenloses WLAN in den Zügen" und versuche eine Verbindung
herzustellen. Ich öffne die Einstellungen und habe die Wahl zwischen
"iPhone von Bertold" – der Typ neben mir heißt also Bertold, ich überlege
kurz ihn mit „jaja der Bernie“ anzusprechen – und "Dat fucking
Hotspot". Auch wenn dieser Name für das DB-WiFi passender kaum sein
könnte, ich befürchte, so viel Humor hat dieses Fernverkehrsunternehmen nicht.
Vielleicht wenn die irgendwann die Marketingabteilung der BVG abwerben. Das
viel gepriesene WIFIonICE ist also offensichtlich nicht verfügbar.
Das verschafft einem bei gemütlicher Fahrt durch die
überschaubar abwechslungsreiche Feld- und Wiesenlandschaften Brandenburgs
und Sachsen-Anhalts unerwünscht viel Zeit Deutschlands Prärie – Achtung
Wortspiel! – in vollen Zügen zu genießen. Wenn dann auch das Wetter eher
eintönig grau daherkommt, werden aus sechzig Minuten im Handumdrehen
gefühlte acht Stunden mit dem krönenden Abschluss "Halt in
Bitterfeld".
Ich sitze also weiterhin neben dem regungslosen Bertold,
gelegentlich aufflackerndem Edge-"Internet" und wiederholten
Fremdkörperkontakten auf der linken Seite, deren Highlights ein
Hartschalenkoffer in der Größe eines mittleren Einfamilienhauses und ein
unverkennbar intensiv genutztes Paar Wanderstiefel in meinem Gesicht sind.
Immerhin funktioniert die Klimaanlage, nicht
selbstverständlich, aber bei einer Außentemperatur von 21°C funktioniert das
Ding halt und zeigt mit gefühlten 12°C was es zu leisten im Stande ist.
(Nachtrag: Auf der Rückfahrt hat eben gelobte Klimaanlage beim Erreichen der
25-Grad-Außentemperatur-Marke zuverlässig den Geist aufgegeben.)
In einer kurzen Lücke im Menschenstrom der sich, warum auch
immer, kontinuierlich in mir vorbei quetscht – ich hatte bis zu der Durchsage:
"Wegen technischer Schwierigkeiten steht unser Speisewagenservice heute
leider nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Besuchen Sie uns aber dennoch
gerne in Wagen 21" noch vermutet im Speisewagen gibt Pommes und Bier
gratis – erkenne ich die Ursache für die offensichtliche Engstelle im Gang
genau auf meiner Höhe.
Auf der anderen Gangseite hat eine Dame Platz genommen, die
vorsichtig formuliert, nicht als Sitzmodel für die Intercityexpress-Bestuhlung
eingesetzt wurde. Bei ihr bekommt der Spruch "etwas locker auf einer
Arschbacke absitzen" jedenfalls eine ganz andere Bedeutung. Nur
ungünstig, dass mein Ellenbogen das Gegenstück dieses Nadelöhrs ist.
Der Rest des Großraumabteils ist zu etwa einem Drittel mit
einer (mit 95%iger Sicherheit) japanischen Reisegruppe belegt. Die Männer
tragen fast ausschließlich weiße Shirts mit Columbia-Aufdruck, Sonnenbrillen
und Nackenkissen. Ihre Gespräche branden einige Male kurz lauter auf, aber
die gesamte Truppe wirkt im Großen und Ganzen schon etwas abgekämpft.
Vermutlich haben sie bis zum frühen Nachmittag bereits Heidelberg, Frankfurt,
Köln, Münster, Hamburg und Berlin besichtigt und bereiten sich langsam auf die
letzten Stationen in Leipzig, Nürnberg und München vor, wo in knapp drei
Stunden im Hofbräuhaus Grillhaxe und eine schnelle Maß Bier als Abendessen
warten und den Deutschlandbesuch komplettieren.
Nächste Station ist die Buch- und Messestadt. Kaum
angekündigt, springen mehrere Mitreisende auf und mein Ellenbogen wird noch ein
letztes Mal nach Herzenslust malträtiert. Denn hier steige ich nun auch aus. Doch
als ich den Zug gerade Richtung Freiheit verlassen möchte, dreht sich der Typ direkt
vor mir plötzlich mit weit aufgerissenen Augen um und stürmt panisch zurück in
den Wagen. Ich komme also völlig unerwartet doch noch einmal in den vollen
Ganggenuss und lerne seinen Trekking-Rucksack, seinen Jutebeutel und den
Reißverschluss seiner Jacke in aller Ausführlichkeit und nächster Nähe kennen,
bevor ich endlich auf den Bahnsteig treten kann.
Das Telefon in der Hand – Großstadt, endlich wieder LTE-Netz
– leuchtet plötzlich das WLAN-Symbol "Verbunden mit WIFIonICE" auf.
Etwas spät! Aber nur deswegen mit dem nächsten ICE nach Frankfurt/Main
weiterfahren? Ich überlege kurz… steige aber am Ende doch nicht ein.