Montagmittag beim Lidl. Es ist für die Jahreszeit viel zu
warm. 15 Grad. Die Sonne scheint und die gelben Blätter leuchten in den Straßen.
Die Menschen sind friedlich, für Berliner Verhältnisse viel zu freundlich,
geradezu gut gelaunt. Nur die Bettlerin vorm Eingang zum Supermarkt klimpert nicht
mehr mit dem Becher und murmelt hin und her wippend ihr monotones „guuteh Taag,
biddescheen“. Sie motzt jetzt in einer für mich nicht identifizierbaren Sprache
jeden Passanten an. Auch ein freundlicher Blick bringt sie nicht aus dem
Konzept.
Nicht das Einzige, was heute anders ist, als sonst. Das
muss ich schon beim Versuch einen Einkaufswagen zu ergattern, feststellen. Ich
reihe mich geduldig hinter zwei älteren Damen ein, vermutlich Rentnerinnen, die
eine sichtbar länger als die andere, während zwei weitere voll bepackt und
umständlich ihre Einkaufswagen wieder anketten, um den „Chip“ oder die „Mark“
auszulösen. Eine der Damen berlinert den Wartenden ein aufmunterndes „Is‘ ja ‘ne
rischtsche Warteschlange hier, wa“ zu. Nach und nach bekommt nun jeder seinen
Shopping-Panzer. Ich parke gefühlvoll, mit einem soliden Einschlag links und
rechts im Geländer aus – eine russische Hausfrau erntet noch einen
strafend-verächtlichen Blick, als sie getrieben ihren Wagen,
dazwischendrängelnd zurückstellen möchte – und kann nun endlich die
Doppelschiebeglastürenschleuse passieren.
Auch drinnen ist es erstaunlich voll. Das Kundenspektrum
ist sehr breit gefächert … vom Schüler bis zum Rentner, Bauarbeiter,
Hausfrauen, Mittagspäusler, Ganz-Frisch und Sehr-Bald-Mütter,
Hipster-Studenten, Bio-Veganer, Fertigpizza-Konserven-Junkfood-Köche, Touristen,
Zeitlose. Alle schieben sich so mehr oder weniger strukturiert durch die Gänge und
greifen individuell-wählerisch in die Regale. Der Einkaufswagen-Slalom folgt
einer tausendfach erprobten, aber vorher nie einstudierten free-jazzigen Choreografie
durch die Gänge. Es gibt kaum Verletzte.
Während die Wochenaktions-Kühltheke wie leer gefegt ist,
sowohl innen als auch davor, ballt sich eine Herde Drahtkörbe um die
Non-Food-Wühltische in der Mitte des Marktes. Es weihnachtet, wie schon seit
knapp zwei Monaten. In dieser Woche im Angebot: auf der einen Seite Lichterketten
und andere stilvolle blinkende LED-X-Mas-Leuchtelemente, auf der anderen Seite
kuschelwarme Winterbettwäsche mit weihnachtlichen Rentiermotiven.
Ich umfahre diesen Bereich qualitätsbewusst weiträumig
und begebe mich in Richtung der Kassen. Ein kurzer Check: „Hab ich alles?“ und dann
die schnellste Kasse oder – wenn’s mal wieder länger dauert – wenigstens die
mit der hübschesten Kassiererin angesteuert. Aber was ist denn hier los? Wurde
eine Hungersnot angekündigt? Gibt’s heute alles zum halben Preis? Fünf von
Sechs Kassen sind besetzt und trotzdem staut es sich bis in die
Schokoladenzone. Der Security-Mann hinter den Kassen hat weithin sichtbare
Schweißperlen auf der Stirn und schaut hektisch von links nach rechts. So
stressig hat er sich den Job in diesem ansonsten wirklich beschaulichen Laden im
„Gute-Leute-Kiez“ nicht vorgestellt.
Ich habe zwar Zeit, aber es wird ja im November auch
schon früh wieder dunkel. Mir bleibt also, ohne nochmal durch den halben Markt zu
gurken, die Wahl zwischen drei Kassen. Links: die Rentner! Omma und Oppa beim
Wocheneinkauf, dahinter Trude mit den Backzutaten und ihrem Hackenporsche, Ilse
mit zwei Flaschen Sekt, ‘nem Korn, ‘ner Packung „Mon Chéri“ und ein paar Blümchen,
damit es nett wird. In der Mitte: eine Horde Bauarbeiter! Einer kauft zwei
Brötchen, der nächste ein Glas Würstchen, einer nur Kippen, der Vierte ein
Wasser der Letzte Kekse. Man(n) ist was Man(n) isst. An der Kasse rechts:
unüberhörbar die telefonierende russische Hausfrau, die offensichtlich für
heute Abend ein Festmahl, aus allen Spezialitäten die die Tiefkühltruhe so
hergab, zubereiten wird. Gefolgt von der doppelwägigen Großfamilien-versorgenden
Mutter und dem Chefkoch vom Asia-Imbiss, der seinen Bedarf an Milch, Speiseöl,
Salat, Reis, Tomatensauce, Konservenobst und Tütensuppen fein-säuberlich in
haushaltsüblichen Mengen palettenweise in seinem Wagen gestapelt hat. Just in
dem Moment, als ich mich für die goldene Mitte entschieden hatte, wird auch
noch die sechste Kasse geöffnet und von allen besonders Eiligen ins Visier gestürmt.
Doch das eigentliche Highlight sollte mich erst nach der
Kasse erwarten. Ich schiebe meinen Wagen nichts ahnend in die Einpackzone und
quetsche mich zwischen zwei ältere Herren und den immer noch hochkonzentrierten
Security-Mann. Der jüngere der beiden Männer zu meiner rechten hatte, so wurde
schnell klar, den älteren Herren, schätzungsweise irgendwas zwischen achtzig
und fünfundachtzig Jahre jung, in die Fänge einer Lidl-Kunden-Zufriedenheits-Umfrage
gezogen und löcherte ihn nun mit seinen Fragen …
„Wie zufrieden sind Sie mit der
Vielfalt, Qualität, Sauberkeit, Freundlichkeit in dieser Filiale?“ hält ihm das
Smartphone hin „Können Sie das hier lesen?“ ein dezent missfälliges „Nein“
folgt, während der ältere Herr stoisch weiter einpackt „von 1 bis 10“ … „mach
mal ne 8“.
„Okay. Aus welchem Grund sind Sie heute hier?“ hält ihm wieder das
Display vor die Nase, Kopfschütteln „Wocheneinkauf? Spontaneinkauf? Habe etwas
vergessen? Besonderer Artikel? Wochenaktionsangebote?“ – abfällig „Zeig mal
her!“ dann aber ganz sanftmütig „Ich kann ja schon noch selbst für mich sorgen
(du Pimpf). Und wegen dem Ramsch schon mal nich! Na hier so normaler Einkauf.“ –
„Wie oft kaufen Sie hier ein? … Da mach ich also mal regelmäßig! Okay?“ Kopfnicken, genügsam.
„Gibt es ein
Lieblingsprodukt, welches Sie nur hier bekommen? Und wegen dem Sie hier einkaufen
und warum?“ – Ich überlege noch, was ich auf diese Frage antworten würde, da
vernehme ich folgendes: „Käsewürfel!“ – damit hat er nicht gerechnet … ich auch
nicht und versuche nicht laut loszulachen. „Käsewürfel?“ sucht auf dem
Smartphone eine Möglichkeit Käsewürfel einzutippen – mit strahlenden Augen wird
wiederholt: „Ja, Käsewürfel! … Die krieg ich nur hier so preisgünstig … und so
billig!“ Bäm gleich zwei Argumente für Käsewürfel. Immer noch leicht verdutzt „hmm,
aha, … also Käsewürfel. Okay.“
Leicht stotternd folgt die nächste Frage: „Würden
Sie diesen Markt Ihren Freunden oder Familie empfehlen? Schauen Sie hier…“ hält
ihm wieder das Display hin, der ältere Herr schaut auf und ihn kurz und gnädig an
… „hier, mach 8, oder, ja mach 8 (is ja auch egal)“.
„Gut noch eine Frage“ –
ich packe inzwischen zum zweiten Mal meine Tasche neu ein – „Einige Märkte
haben bereits Punkte-Sammel- und Rabatt-Systeme. Nutzen Sie so etwas? Ist das
für Sie interessa…?“ – „Ne, (jetz pass ma auf Freundchen) ich kauf nur das was
ich brauch. Ich renn doch nicht wegen irgend so einem Plunder, den ich eh nicht
brauch, und kauf dann Punkte (oder wie das heißt) oder die Aufkleber, oder ne,
bleib mir bloß weg damit. Das brauch ich nich!“ – Ich denke mir „guter Mann“
und möchte ihn spontan kurz umarmen. Bevor ich gehe, lächle ich ihm noch kurz
zu, er ist zu goldig, seine Käsewürfel liegen noch oben auf dem Wagen auf.
Beim
Verlassen des Supermarktes kommt mir der Filialleiter entgegen. Er hat ein
fragendes Gesicht, denn ich habe ein breites Grinsen auf meinem. Vielleicht
verbucht er es unter Kundenzufriedenheit.