Montag, 5. November 2018

Hammse mal ‘ne Minute – eine Kurzgeschichte


Montagmittag beim Lidl. Es ist für die Jahreszeit viel zu warm. 15 Grad. Die Sonne scheint und die gelben Blätter leuchten in den Straßen. Die Menschen sind friedlich, für Berliner Verhältnisse viel zu freundlich, geradezu gut gelaunt. Nur die Bettlerin vorm Eingang zum Supermarkt klimpert nicht mehr mit dem Becher und murmelt hin und her wippend ihr monotones „guuteh Taag, biddescheen“. Sie motzt jetzt in einer für mich nicht identifizierbaren Sprache jeden Passanten an. Auch ein freundlicher Blick bringt sie nicht aus dem Konzept.

Nicht das Einzige, was heute anders ist, als sonst. Das muss ich schon beim Versuch einen Einkaufswagen zu ergattern, feststellen. Ich reihe mich geduldig hinter zwei älteren Damen ein, vermutlich Rentnerinnen, die eine sichtbar länger als die andere, während zwei weitere voll bepackt und umständlich ihre Einkaufswagen wieder anketten, um den „Chip“ oder die „Mark“ auszulösen. Eine der Damen berlinert den Wartenden ein aufmunterndes „Is‘ ja ‘ne rischtsche Warteschlange hier, wa“ zu. Nach und nach bekommt nun jeder seinen Shopping-Panzer. Ich parke gefühlvoll, mit einem soliden Einschlag links und rechts im Geländer aus – eine russische Hausfrau erntet noch einen strafend-verächtlichen Blick, als sie getrieben ihren Wagen, dazwischendrängelnd zurückstellen möchte – und kann nun endlich die Doppelschiebeglastürenschleuse passieren.

Auch drinnen ist es erstaunlich voll. Das Kundenspektrum ist sehr breit gefächert … vom Schüler bis zum Rentner, Bauarbeiter, Hausfrauen, Mittagspäusler, Ganz-Frisch und Sehr-Bald-Mütter, Hipster-Studenten, Bio-Veganer, Fertigpizza-Konserven-Junkfood-Köche, Touristen, Zeitlose. Alle schieben sich so mehr oder weniger strukturiert durch die Gänge und greifen individuell-wählerisch in die Regale. Der Einkaufswagen-Slalom folgt einer tausendfach erprobten, aber vorher nie einstudierten free-jazzigen Choreografie durch die Gänge. Es gibt kaum Verletzte.

Während die Wochenaktions-Kühltheke wie leer gefegt ist, sowohl innen als auch davor, ballt sich eine Herde Drahtkörbe um die Non-Food-Wühltische in der Mitte des Marktes. Es weihnachtet, wie schon seit knapp zwei Monaten. In dieser Woche im Angebot: auf der einen Seite Lichterketten und andere stilvolle blinkende LED-X-Mas-Leuchtelemente, auf der anderen Seite kuschelwarme Winterbettwäsche mit weihnachtlichen Rentiermotiven.
Ich umfahre diesen Bereich qualitätsbewusst weiträumig und begebe mich in Richtung der Kassen. Ein kurzer Check: „Hab ich alles?“ und dann die schnellste Kasse oder – wenn’s mal wieder länger dauert – wenigstens die mit der hübschesten Kassiererin angesteuert. Aber was ist denn hier los? Wurde eine Hungersnot angekündigt? Gibt’s heute alles zum halben Preis? Fünf von Sechs Kassen sind besetzt und trotzdem staut es sich bis in die Schokoladenzone. Der Security-Mann hinter den Kassen hat weithin sichtbare Schweißperlen auf der Stirn und schaut hektisch von links nach rechts. So stressig hat er sich den Job in diesem ansonsten wirklich beschaulichen Laden im „Gute-Leute-Kiez“ nicht vorgestellt.

Ich habe zwar Zeit, aber es wird ja im November auch schon früh wieder dunkel. Mir bleibt also, ohne nochmal durch den halben Markt zu gurken, die Wahl zwischen drei Kassen. Links: die Rentner! Omma und Oppa beim Wocheneinkauf, dahinter Trude mit den Backzutaten und ihrem Hackenporsche, Ilse mit zwei Flaschen Sekt, ‘nem Korn, ‘ner Packung „Mon Chéri“ und ein paar Blümchen, damit es nett wird. In der Mitte: eine Horde Bauarbeiter! Einer kauft zwei Brötchen, der nächste ein Glas Würstchen, einer nur Kippen, der Vierte ein Wasser der Letzte Kekse. Man(n) ist was Man(n) isst. An der Kasse rechts: unüberhörbar die telefonierende russische Hausfrau, die offensichtlich für heute Abend ein Festmahl, aus allen Spezialitäten die die Tiefkühltruhe so hergab, zubereiten wird. Gefolgt von der doppelwägigen Großfamilien-versorgenden Mutter und dem Chefkoch vom Asia-Imbiss, der seinen Bedarf an Milch, Speiseöl, Salat, Reis, Tomatensauce, Konservenobst und Tütensuppen fein-säuberlich in haushaltsüblichen Mengen palettenweise in seinem Wagen gestapelt hat. Just in dem Moment, als ich mich für die goldene Mitte entschieden hatte, wird auch noch die sechste Kasse geöffnet und von allen besonders Eiligen ins Visier gestürmt.

Doch das eigentliche Highlight sollte mich erst nach der Kasse erwarten. Ich schiebe meinen Wagen nichts ahnend in die Einpackzone und quetsche mich zwischen zwei ältere Herren und den immer noch hochkonzentrierten Security-Mann. Der jüngere der beiden Männer zu meiner rechten hatte, so wurde schnell klar, den älteren Herren, schätzungsweise irgendwas zwischen achtzig und fünfundachtzig Jahre jung, in die Fänge einer Lidl-Kunden-Zufriedenheits-Umfrage gezogen und löcherte ihn nun mit seinen Fragen …
„Wie zufrieden sind Sie mit der Vielfalt, Qualität, Sauberkeit, Freundlichkeit in dieser Filiale?“ hält ihm das Smartphone hin „Können Sie das hier lesen?“ ein dezent missfälliges „Nein“ folgt, während der ältere Herr stoisch weiter einpackt „von 1 bis 10“ … „mach mal ne 8“. 
„Okay. Aus welchem Grund sind Sie heute hier?“ hält ihm wieder das Display vor die Nase, Kopfschütteln „Wocheneinkauf? Spontaneinkauf? Habe etwas vergessen? Besonderer Artikel? Wochenaktionsangebote?“ – abfällig „Zeig mal her!“ dann aber ganz sanftmütig „Ich kann ja schon noch selbst für mich sorgen (du Pimpf). Und wegen dem Ramsch schon mal nich! Na hier so normaler Einkauf.“ – „Wie oft kaufen Sie hier ein? … Da mach ich also mal regelmäßig! Okay?“ Kopfnicken, genügsam. 
„Gibt es ein Lieblingsprodukt, welches Sie nur hier bekommen? Und wegen dem Sie hier einkaufen und warum?“ – Ich überlege noch, was ich auf diese Frage antworten würde, da vernehme ich folgendes: „Käsewürfel!“ – damit hat er nicht gerechnet … ich auch nicht und versuche nicht laut loszulachen. „Käsewürfel?“ sucht auf dem Smartphone eine Möglichkeit Käsewürfel einzutippen – mit strahlenden Augen wird wiederholt: „Ja, Käsewürfel! … Die krieg ich nur hier so preisgünstig … und so billig!“ Bäm gleich zwei Argumente für Käsewürfel. Immer noch leicht verdutzt „hmm, aha, … also Käsewürfel. Okay.“ 
Leicht stotternd folgt die nächste Frage: „Würden Sie diesen Markt Ihren Freunden oder Familie empfehlen? Schauen Sie hier…“ hält ihm wieder das Display hin, der ältere Herr schaut auf und ihn kurz und gnädig an … „hier, mach 8, oder, ja mach 8 (is ja auch egal)“. 
„Gut noch eine Frage“ – ich packe inzwischen zum zweiten Mal meine Tasche neu ein – „Einige Märkte haben bereits Punkte-Sammel- und Rabatt-Systeme. Nutzen Sie so etwas? Ist das für Sie interessa…?“ – „Ne, (jetz pass ma auf Freundchen) ich kauf nur das was ich brauch. Ich renn doch nicht wegen irgend so einem Plunder, den ich eh nicht brauch, und kauf dann Punkte (oder wie das heißt) oder die Aufkleber, oder ne, bleib mir bloß weg damit. Das brauch ich nich!“ – Ich denke mir „guter Mann“ und möchte ihn spontan kurz umarmen. Bevor ich gehe, lächle ich ihm noch kurz zu, er ist zu goldig, seine Käsewürfel liegen noch oben auf dem Wagen auf. 

Beim Verlassen des Supermarktes kommt mir der Filialleiter entgegen. Er hat ein fragendes Gesicht, denn ich habe ein breites Grinsen auf meinem. Vielleicht verbucht er es unter Kundenzufriedenheit.