Montag, 5. November 2018

Hammse mal ‘ne Minute – eine Kurzgeschichte


Montagmittag beim Lidl. Es ist für die Jahreszeit viel zu warm. 15 Grad. Die Sonne scheint und die gelben Blätter leuchten in den Straßen. Die Menschen sind friedlich, für Berliner Verhältnisse viel zu freundlich, geradezu gut gelaunt. Nur die Bettlerin vorm Eingang zum Supermarkt klimpert nicht mehr mit dem Becher und murmelt hin und her wippend ihr monotones „guuteh Taag, biddescheen“. Sie motzt jetzt in einer für mich nicht identifizierbaren Sprache jeden Passanten an. Auch ein freundlicher Blick bringt sie nicht aus dem Konzept.

Nicht das Einzige, was heute anders ist, als sonst. Das muss ich schon beim Versuch einen Einkaufswagen zu ergattern, feststellen. Ich reihe mich geduldig hinter zwei älteren Damen ein, vermutlich Rentnerinnen, die eine sichtbar länger als die andere, während zwei weitere voll bepackt und umständlich ihre Einkaufswagen wieder anketten, um den „Chip“ oder die „Mark“ auszulösen. Eine der Damen berlinert den Wartenden ein aufmunterndes „Is‘ ja ‘ne rischtsche Warteschlange hier, wa“ zu. Nach und nach bekommt nun jeder seinen Shopping-Panzer. Ich parke gefühlvoll, mit einem soliden Einschlag links und rechts im Geländer aus – eine russische Hausfrau erntet noch einen strafend-verächtlichen Blick, als sie getrieben ihren Wagen, dazwischendrängelnd zurückstellen möchte – und kann nun endlich die Doppelschiebeglastürenschleuse passieren.

Auch drinnen ist es erstaunlich voll. Das Kundenspektrum ist sehr breit gefächert … vom Schüler bis zum Rentner, Bauarbeiter, Hausfrauen, Mittagspäusler, Ganz-Frisch und Sehr-Bald-Mütter, Hipster-Studenten, Bio-Veganer, Fertigpizza-Konserven-Junkfood-Köche, Touristen, Zeitlose. Alle schieben sich so mehr oder weniger strukturiert durch die Gänge und greifen individuell-wählerisch in die Regale. Der Einkaufswagen-Slalom folgt einer tausendfach erprobten, aber vorher nie einstudierten free-jazzigen Choreografie durch die Gänge. Es gibt kaum Verletzte.

Während die Wochenaktions-Kühltheke wie leer gefegt ist, sowohl innen als auch davor, ballt sich eine Herde Drahtkörbe um die Non-Food-Wühltische in der Mitte des Marktes. Es weihnachtet, wie schon seit knapp zwei Monaten. In dieser Woche im Angebot: auf der einen Seite Lichterketten und andere stilvolle blinkende LED-X-Mas-Leuchtelemente, auf der anderen Seite kuschelwarme Winterbettwäsche mit weihnachtlichen Rentiermotiven.
Ich umfahre diesen Bereich qualitätsbewusst weiträumig und begebe mich in Richtung der Kassen. Ein kurzer Check: „Hab ich alles?“ und dann die schnellste Kasse oder – wenn’s mal wieder länger dauert – wenigstens die mit der hübschesten Kassiererin angesteuert. Aber was ist denn hier los? Wurde eine Hungersnot angekündigt? Gibt’s heute alles zum halben Preis? Fünf von Sechs Kassen sind besetzt und trotzdem staut es sich bis in die Schokoladenzone. Der Security-Mann hinter den Kassen hat weithin sichtbare Schweißperlen auf der Stirn und schaut hektisch von links nach rechts. So stressig hat er sich den Job in diesem ansonsten wirklich beschaulichen Laden im „Gute-Leute-Kiez“ nicht vorgestellt.

Ich habe zwar Zeit, aber es wird ja im November auch schon früh wieder dunkel. Mir bleibt also, ohne nochmal durch den halben Markt zu gurken, die Wahl zwischen drei Kassen. Links: die Rentner! Omma und Oppa beim Wocheneinkauf, dahinter Trude mit den Backzutaten und ihrem Hackenporsche, Ilse mit zwei Flaschen Sekt, ‘nem Korn, ‘ner Packung „Mon Chéri“ und ein paar Blümchen, damit es nett wird. In der Mitte: eine Horde Bauarbeiter! Einer kauft zwei Brötchen, der nächste ein Glas Würstchen, einer nur Kippen, der Vierte ein Wasser der Letzte Kekse. Man(n) ist was Man(n) isst. An der Kasse rechts: unüberhörbar die telefonierende russische Hausfrau, die offensichtlich für heute Abend ein Festmahl, aus allen Spezialitäten die die Tiefkühltruhe so hergab, zubereiten wird. Gefolgt von der doppelwägigen Großfamilien-versorgenden Mutter und dem Chefkoch vom Asia-Imbiss, der seinen Bedarf an Milch, Speiseöl, Salat, Reis, Tomatensauce, Konservenobst und Tütensuppen fein-säuberlich in haushaltsüblichen Mengen palettenweise in seinem Wagen gestapelt hat. Just in dem Moment, als ich mich für die goldene Mitte entschieden hatte, wird auch noch die sechste Kasse geöffnet und von allen besonders Eiligen ins Visier gestürmt.

Doch das eigentliche Highlight sollte mich erst nach der Kasse erwarten. Ich schiebe meinen Wagen nichts ahnend in die Einpackzone und quetsche mich zwischen zwei ältere Herren und den immer noch hochkonzentrierten Security-Mann. Der jüngere der beiden Männer zu meiner rechten hatte, so wurde schnell klar, den älteren Herren, schätzungsweise irgendwas zwischen achtzig und fünfundachtzig Jahre jung, in die Fänge einer Lidl-Kunden-Zufriedenheits-Umfrage gezogen und löcherte ihn nun mit seinen Fragen …
„Wie zufrieden sind Sie mit der Vielfalt, Qualität, Sauberkeit, Freundlichkeit in dieser Filiale?“ hält ihm das Smartphone hin „Können Sie das hier lesen?“ ein dezent missfälliges „Nein“ folgt, während der ältere Herr stoisch weiter einpackt „von 1 bis 10“ … „mach mal ne 8“. 
„Okay. Aus welchem Grund sind Sie heute hier?“ hält ihm wieder das Display vor die Nase, Kopfschütteln „Wocheneinkauf? Spontaneinkauf? Habe etwas vergessen? Besonderer Artikel? Wochenaktionsangebote?“ – abfällig „Zeig mal her!“ dann aber ganz sanftmütig „Ich kann ja schon noch selbst für mich sorgen (du Pimpf). Und wegen dem Ramsch schon mal nich! Na hier so normaler Einkauf.“ – „Wie oft kaufen Sie hier ein? … Da mach ich also mal regelmäßig! Okay?“ Kopfnicken, genügsam. 
„Gibt es ein Lieblingsprodukt, welches Sie nur hier bekommen? Und wegen dem Sie hier einkaufen und warum?“ – Ich überlege noch, was ich auf diese Frage antworten würde, da vernehme ich folgendes: „Käsewürfel!“ – damit hat er nicht gerechnet … ich auch nicht und versuche nicht laut loszulachen. „Käsewürfel?“ sucht auf dem Smartphone eine Möglichkeit Käsewürfel einzutippen – mit strahlenden Augen wird wiederholt: „Ja, Käsewürfel! … Die krieg ich nur hier so preisgünstig … und so billig!“ Bäm gleich zwei Argumente für Käsewürfel. Immer noch leicht verdutzt „hmm, aha, … also Käsewürfel. Okay.“ 
Leicht stotternd folgt die nächste Frage: „Würden Sie diesen Markt Ihren Freunden oder Familie empfehlen? Schauen Sie hier…“ hält ihm wieder das Display hin, der ältere Herr schaut auf und ihn kurz und gnädig an … „hier, mach 8, oder, ja mach 8 (is ja auch egal)“. 
„Gut noch eine Frage“ – ich packe inzwischen zum zweiten Mal meine Tasche neu ein – „Einige Märkte haben bereits Punkte-Sammel- und Rabatt-Systeme. Nutzen Sie so etwas? Ist das für Sie interessa…?“ – „Ne, (jetz pass ma auf Freundchen) ich kauf nur das was ich brauch. Ich renn doch nicht wegen irgend so einem Plunder, den ich eh nicht brauch, und kauf dann Punkte (oder wie das heißt) oder die Aufkleber, oder ne, bleib mir bloß weg damit. Das brauch ich nich!“ – Ich denke mir „guter Mann“ und möchte ihn spontan kurz umarmen. Bevor ich gehe, lächle ich ihm noch kurz zu, er ist zu goldig, seine Käsewürfel liegen noch oben auf dem Wagen auf. 

Beim Verlassen des Supermarktes kommt mir der Filialleiter entgegen. Er hat ein fragendes Gesicht, denn ich habe ein breites Grinsen auf meinem. Vielleicht verbucht er es unter Kundenzufriedenheit.

Sonntag, 18. Juni 2017

Der Platz am Gang

Ich sitze im Zug. Genauer gesagt im ICE nach Hause. Es ist Freitagnachmittag und die Sitzplätze entsprechend gut belegt. Den Zug habe ich mit Ach und Krach noch erwischt. Teils selbstverschuldet (manchmal ist es echt klug, wenn man vorab nochmal die Abfahrtszeit checkt), teils dank der flexiblen Fahrbereitschaft der Berliner Schnellbahn. Endlich am Bahnhof angekommen, sprinte ich durch selbigen und sprenge, auf dem Weg zu Gleis 2, mit vollem Einsatz noch eine größere sächsische Reisegruppe, die nun vermutlich in ihre Einzelteile zerlegt – ei verbibsch nochemol – willenlos durch die Hauptstadt irrt, bevor ich mit einem beherzten Schlussspurt durch und über diverse Hindernisse hinweg (Fastfood-Essensreste, Rollkoffer, Kinderwagen) elegant an der, schon mit Trillerpfeife im Mund, aber noch auf dem Bahnsteig stehenden, Zugbegleiterin vorbei in Wagen 23 springe.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir: zwei Minuten zu spät! Aber bei der Deutschen Bahn gilt das noch als überpünktlich und ausreichend. Weitere drei Minuten später ertönt ein Pfiff und das charakteristische Quietschen der Zugtüren. Wir rollen los.
Währenddessen stolpere ich mit vermutlich leicht gerötetem Teint und leicht transpirierend auf der Suche nach einem Sitzplatz durch den Wagon. Nicht so einfach. Überall leuchten die Reservierungen auf und vor mir schlurft ein älteres Pärchen (Rentner) mit großem Koffer – sie sieht schlecht, er hört genauso gut – durch den Gang, überrollen dabei mehrere linke und rechte Füße und reißen unzählige Armlehnen mit sich. Sie suchen ihre reservierten Sitzplätze... diese befinden sich allerdings in Wagen 28! Doch bis zu der Erkenntnis wird es noch etwas dauern.
In ihrem Windschatten erspähe ich auf der rechten Seite einen leeren Sitzplatz, der erst nach meinem Zielort reserviert und somit zum Glück tatsächlich noch frei ist. Der Kerl am Fenster – Typ Vertreter – hat sich bereits in seinen Kokon aus Unterhaltungselektronik gehüllt. Einzige Reaktion auf meine Platzwahl: Er tackert seinen linken Arm noch fester auf die mittlere Armlehne. Meine! Ansonsten, Bewegungslosigkeit und Ignoranz. 
Ich tue es ihm gleich, krame ein Buch aus der Tasche – erstmal Revier markieren – bloppe die Kopfhörer in die Ohren und wurschtel mein Smartphone aus der Hosentasche (bin schließlich auch extrem busy und wichtig!!!). So sitze ich nun, immer noch den Spurt quer durch den Hauptbahnhof verarbeitend, halb über der linken Armlehne am Gang hängend, auf Platz 38.
"Leidies und Tschentelmän, welkam on bord off Ei-Sie-Iee to Mjunik weia Bitterfeld, Naumburg änd ..." na Hauptsache die Landschaft ist schön "... in ä fju minetz wie will arreif ett auer next stop". Alleine während dieser Ansage wird mein linker Ellenbogen (zur Erinnerung: der am Gang), sage und schreibe dreizehn Mal von diversen Taschen, Hüften, Jacken, breiten Hüften sowie anderen Körperteilen und Gegenständen malträtiert. Darunter vier Mal die Gürtel-/Bauchtasche eines vor sich hin brabbelnden desorientierten Russen. Der Business-Heini neben mir schaut inzwischen "the big bang theory".
Als sich das allgemeine Tohuwabohu im Abteil etwas gelegt hat, nur noch das obligatorische Schreikind und Handygespräch zu hören ist, fällt mir das große WiFi Symbol an der sich dennoch ständig öffnenden Glastür ins Blickfeld. Ich erinnere mich an die vollmundigen Versprechungen der Bahn "kostenloses WLAN in den Zügen" und versuche eine Verbindung herzustellen. Ich öffne die Einstellungen und habe die Wahl zwischen "iPhone von Bertold" – der Typ neben mir heißt also Bertold, ich überlege kurz ihn mit „jaja der Bernie“ anzusprechen – und "Dat fucking Hotspot". Auch wenn dieser Name für das DB-WiFi passender kaum sein könnte, ich befürchte, so viel Humor hat dieses Fernverkehrsunternehmen nicht. Vielleicht wenn die irgendwann die Marketingabteilung der BVG abwerben. Das viel gepriesene WIFIonICE ist also offensichtlich nicht verfügbar.
Das verschafft einem bei gemütlicher Fahrt durch die überschaubar abwechslungsreiche Feld- und Wiesenlandschaften Brandenburgs und Sachsen-Anhalts unerwünscht viel Zeit Deutschlands Prärie – Achtung Wortspiel! – in vollen Zügen zu genießen. Wenn dann auch das Wetter eher eintönig grau daherkommt, werden aus sechzig Minuten im Handumdrehen gefühlte acht Stunden mit dem krönenden Abschluss "Halt in Bitterfeld".
Ich sitze also weiterhin neben dem regungslosen Bertold, gelegentlich aufflackerndem Edge-"Internet" und wiederholten Fremdkörperkontakten auf der linken Seite, deren Highlights ein Hartschalenkoffer in der Größe eines mittleren Einfamilienhauses und ein unverkennbar intensiv genutztes Paar Wanderstiefel in meinem Gesicht sind.
Immerhin funktioniert die Klimaanlage, nicht selbstverständlich, aber bei einer Außentemperatur von 21°C funktioniert das Ding halt und zeigt mit gefühlten 12°C was es zu leisten im Stande ist. (Nachtrag: Auf der Rückfahrt hat eben gelobte Klimaanlage beim Erreichen der 25-Grad-Außentemperatur-Marke zuverlässig den Geist aufgegeben.)
In einer kurzen Lücke im Menschenstrom der sich, warum auch immer, kontinuierlich in mir vorbei quetscht – ich hatte bis zu der Durchsage: "Wegen technischer Schwierigkeiten steht unser Speisewagenservice heute leider nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Besuchen Sie uns aber dennoch gerne in Wagen 21" noch vermutet im Speisewagen gibt Pommes und Bier gratis – erkenne ich die Ursache für die offensichtliche Engstelle im Gang genau auf meiner Höhe. 
Auf der anderen Gangseite hat eine Dame Platz genommen, die vorsichtig formuliert, nicht als Sitzmodel für die Intercityexpress-Bestuhlung eingesetzt wurde. Bei ihr bekommt der Spruch "etwas locker auf einer Arschbacke absitzen" jedenfalls eine ganz andere Bedeutung. Nur ungünstig, dass mein Ellenbogen das Gegenstück dieses Nadelöhrs ist.
Der Rest des Großraumabteils ist zu etwa einem Drittel mit einer (mit 95%iger Sicherheit) japanischen Reisegruppe belegt. Die Männer tragen fast ausschließlich weiße Shirts mit Columbia-Aufdruck, Sonnenbrillen und Nackenkissen. Ihre Gespräche branden einige Male kurz lauter auf, aber die gesamte Truppe wirkt im Großen und Ganzen schon etwas abgekämpft. Vermutlich haben sie bis zum frühen Nachmittag bereits Heidelberg, Frankfurt, Köln, Münster, Hamburg und Berlin besichtigt und bereiten sich langsam auf die letzten Stationen in Leipzig, Nürnberg und München vor, wo in knapp drei Stunden im Hofbräuhaus Grillhaxe und eine schnelle Maß Bier als Abendessen warten und den Deutschlandbesuch komplettieren.
Nächste Station ist die Buch- und Messestadt. Kaum angekündigt, springen mehrere Mitreisende auf und mein Ellenbogen wird noch ein letztes Mal nach Herzenslust malträtiert. Denn hier steige ich nun auch aus. Doch als ich den Zug gerade Richtung Freiheit verlassen möchte, dreht sich der Typ direkt vor mir plötzlich mit weit aufgerissenen Augen um und stürmt panisch zurück in den Wagen. Ich komme also völlig unerwartet doch noch einmal in den vollen Ganggenuss und lerne seinen Trekking-Rucksack, seinen Jutebeutel und den Reißverschluss seiner Jacke in aller Ausführlichkeit und nächster Nähe kennen, bevor ich endlich auf den Bahnsteig treten kann. 
Das Telefon in der Hand – Großstadt, endlich wieder LTE-Netz – leuchtet plötzlich das WLAN-Symbol "Verbunden mit WIFIonICE" auf. Etwas spät! Aber nur deswegen mit dem nächsten ICE nach Frankfurt/Main weiterfahren? Ich überlege kurz… steige aber am Ende doch nicht ein.

Montag, 16. Mai 2016

Bis nichts mehr geht

Samstag. 14. Mai. Es ist soweit. Mammutmarsch! Die Herausforderung: 100 Kilometer in 24 Stunden zu Fuß. Und so ist es mir dabei ergangen …
Es ist gegen 9 Uhr als ich aufwache. Gedanklich schwanke ich direkt zwischen „Es-geht-endlich-los-Vorfreude“ und „ich-bin-doch-bekloppt-Zweifel“. Aber die Sonne scheint, das Wetter passt und nach einer heißen Dusche und einer Schüssel Müsli (okay, es waren Schokocornflakes und eine Banane) steigt die Neugier auf die bevorstehende Challenge. Leider wurde unsere dreier Wandergruppe schon vor dem Start verletzungsbedingt leicht reduziert. Aber kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken. Nach dem kleinen Frühstück ziehe ich mir meine Laufschuhe an und jogge zum nächsten Bäcker um noch ein paar frische Brötchen für die Marschverpflegung zu besorgen. Meinen Rucksack hatte ich am Vorabend bereits gepackt und so fehlten nur noch ein paar Snacks und eine Thermoskanne voll Tee, die, wie sich noch zeigen wird, das wichtigste Teil im Marschgepäck werden sollte.
Bevor es gegen 14 Uhr mit der Bahn Richtung Startpunkt in Erkner im Südosten Berlins losgehen sollte, gab es mittags noch eine ordentliche Portion Spaghetti Bolognese, um genug Energie für den Mammutmarsch zu haben. Am dortigen Sportplatz angekommen, holten wir uns unsere gelben Bändchen und warteten genüsslich in der Sonne auf unseren Startschuss um 16.30 Uhr. Pünktlich ging es für die etwa 250 Läufer der vierten Startgruppe los. Mit sehr verhaltenem Tempo. Denn es dauerte eine Weile, bis sich die über 200 Starter auf recht engen Wegen sortiert hatten und wir zwei unseren Platz und unser Tempo finden konnten. Von Erkner aus ging es zuerst Richtung Müggelsee, den wir, bis zum ersten geplanten Verpflegungsposten bei Kilometer 16, etwa zu zwei Drittel umrunden mussten. Eine wirklich wunderschöne Strecke, durch den Wald, auf befestigten Wanderwegen, immer am Wasser entlang und bei schon fast sommerlichem Wetter. Nach knapp drei Stunden erreichten wir den ersten Versorgungspunkt am Strandbad Müggelsee. Dort legten wir eine erste, etwas längere Pause ein, aßen Bananen, Müsliriegel, Milchbrötchen und füllten unsere Wasserflaschen wieder auf. Dummerweise ging es meiner Laufpartnerin an diesem Tag von Anfang an ziemlich dreckig. Immer wieder mussten wir kleinere Päuschen einlegen und konnten das anvisierte Tempo nie wirklich erreichen. Trotz allem haben wir versucht, Laune und Motivation ziemlich hoch zu halten, doch das Thema „Ausstieg“ schwebte natürlich die ganze Zeit in unseren Köpfen. Die nächsten Kilometer verlief die Strecke dann parallel zur S-Bahn. Wir nahmen auf dem sandigen Waldweg noch einmal ordentlich Fahrt auf und überholten einige der vor uns Gestarteten. Je näher wir dem nächsten Bahnhof kamen, desto bewusster wurde uns beiden, auch ohne viele Worte, dass dort für mindestens einen von uns, der Mammutmarsch beendet sein wird. Alles andere wäre leichtsinnig, ja fahrlässig gewesen. Ich überlegt kurz, ebenfalls aufzuhören. Da ich mich aber nach ziemlich genau fünf Stunden und knapp 25 Kilometern noch so fit fühlte, war das dann doch keine wirkliche Option. Also entschloss ich mich, von nun an alleine weiterzulaufen. Noch eine kurze Verabschiedungs- und Trinkpause und weiter ging es in die Nacht.
Vor der Nacht hatte ich im Vorhinein den größten Respekt. Wie würde es sein im Dunkeln durch den Wald? Über Stock und Stein. Unbekanntes Gelände. Wann kommt die Müdigkeit? Wann die Erschöpfung? 
Ich kramte die Stirnlampe aus meinem Rucksack, um sie bei Bedarf griffbereit zu haben und marschierte weiter. Und es lief ganz gut los. Ich fand schnell mein eigenes Tempo, überholte weitere Läufer und da die Straßen und Wege überwiegend beleuchtet waren, machte die Dunkelheit auch keine Probleme. Ich lief und lief und lief. Beim Überholen immer mal ein schnelles Wort gewechselt und ab und an eine kurze WhatsApp-Nachricht ausgetauscht. Meine Moral war wieder voll da. Bis kurz vor Km 30, als sich so langsam die ersten Schmerzen breit machten. Kurze Pause. Etwas Energie nachfüllen. Weiter, immer weiter. Die Nacht war nahezu sternenklar. Vorteil. Es regnete nicht. Nachteil: es wurde ziemlich kalt. Dazu ein frischer Wind, wodurch schon kurze Pausen recht unangenehm wurden. An der Rennbahn Hoppegarten kamen dann die Wechselklamotten zum Einsatz. Ein langärmliges, trockenes Oberteil und zusätzlich zu T-Shirt und Softshell-Jacke die Windjacke oben drüber. Außerdem gönnte ich mir eine erste Tasse Tee und einen Energieriegel ("Mhh, lecker, Saitenbacher").
Aber ich merkte schon, dass mein rechtes Bein dieses Mal meine Schwachstelle bildet. Denn wie bereits beim letzten Trainingsmarsch muckerte die Schienbeinmuskulatur erheblich rum. Nur diesmal halt das andere Bein. Jetzt begann also der Kampf - Kopf gegen Körper.
Zum Glück war es nicht mehr weit bis zur S-Bahn-Station Hoppegarten. Ich fand plötzlich die Gruppe um Hund Titus wieder. Die waren mit mir gemeinsam gestartet und Titus schlich uns am Anfang mehrfach um die Beine. Die Stimmung in der Gruppe war gut und ich hatte genug Ablenkung von meinen Schmerzen, dass ich den Abzweig zur Bahn ignorierte und es auf jeden Fall bis zur nächsten Station in Neuenhagen packen wollte.
An die Schmerzen hatte ich mich nun schon etwas gewöhnt. Ich lief weiter in der Masse mit und konnte beobachten, wie in Neuenhagen immer wieder Läufer in ihre Häuser abbogen und den Mammutmarsch beendeten. Unerwartet schnell erreichte ich die nächste S-Bahnstation und entschied mich, wie einige andere auch, zu einer längeren Pause auf der großen Treppe. Essen. Trinken. Schienbein massieren. Ich hatte nun ziemlich genau 7 Stunden immer wieder einen Fuß vor den anderen gesetzt und war, nach absolvierten 35 Kilometern, immer noch im 5 km/h Schnitt.
Dennoch weiß ich nicht, ob ich, wenn mir die S-Bahn hier nicht gerade direkt vor der Nase weggefahren wäre, hier nach etwas mehr als einem Drittel nicht schon aufgegeben hätte.
Gegen Mitternacht war mein Ehrgeiz wieder voll da und ich lief weiter. Nächstes Ziel der zweite Versorgungsposten bei km 44.
Nach einer kurzen Einlauf-Phase lief es dann doch wieder recht gut. Inzwischen war das Läuferfeld deutlich ausgedünnt und die Abstände zwischen den Stirnlampen wurden größer. Mit unterqueren des Autobahnrings verlies ich nun endgültig Berlin und lief stoisch vor mich hin. Keine Ahnung ob es die Müdigkeit war, ob ich nur in den Stand-by-Modus gewechselt hatte, oder ob ich einfach keine Kapazität mehr hatte um über die Schmerzen nachzudenken, aber ich kam mit nur einer kurzen Trinkpause bis zu km 40.
Es wurde nach einem langen Stück über Feld- und Waldwege wieder etwas urbaner und plötzlich waren auch wieder mehr Wanderer um mich herum. Von hinter kam ein zweier Team die sich lauthals gegenseitig motivierten „So schlimm sind die Schmerzen gar nicht. Sind ja keine Wehen (sie) oder eine Harnröhrenspaltung (er)“. Wir plauderten dann eine ganze Weile über das bisher erlebte und ich ließ mich ein ordentliches Stück Strecke mitziehen. Vor allem nachts hat das Laufen in der Gruppe seine Vorteile. Man hat Ablenkung, muss sich nicht so sehr mit sich selbst beschäftigen und man pusht sich auch ganz unbewusst gegenseitig.
Beim Überqueren einer größeren Straße trafen wir auf zwei Streckenposten, die uns versuchten zu motivieren und meinten: „nur noch drei Kilometer“ bis zur Verpflegungsstation. Ich mach es kurz: es waren sehr lange drei Kilometer. Dennoch großen Dank an all die Helfer unterwegs!
Ich konnte irgendwann das Tempo der beiden nicht mehr halten und ließ sie davonziehen. Aber nur kurze Zeit später überholte mich ein weiterer inzwischen „Allein-Läufer“ (er hatte seine Teamgefährtinnen abgehängt) und wir erreichten gemeinsam den Streckenposten in Bruchmühle. Später sollten wir uns auf dem Rückweg in der S-Bahn noch einmal wiedersehen. Gegen halb drei hatte ich also 44 Kilometer absolviert. Zehn Stunden! Und ich war körperlich schon ziemlich im Eimer, die Füße taten weh, das Schienbein sowieso, Rücken und Knie schmerzten inzwischen auch und es war arschkalt. Vielleicht noch so 5 bis 6 °C. Aber der Kopf spielte noch ganz gut mit.
Ich setzte mich zu den beiden von unterwegs, die hier den Rest ihrer fünfer Gruppe wieder gefunden hatten. Wir stellten fest, dass es hier in Bruchmühle klang wie in einem Feldlazarett nach einer sehr verheerenden Schlacht. Lautes Ächzen und Stöhnen, Menschen gehüllt in gold- und silberfarbene Rettungsfolien, Füße die bereits großflächig abgeklebt wurden. Ich gönnte mir einen Energieriegel und spendierte eine Runde heißen Tee. Im Gegenzug wurde mir für Kilometer 74 ein Bier in Aussicht gestellt. Anschließend versuchte ich mich noch an einer der Feuerstellen wieder aufzuwärmen, während neben mir eifrig darüber debattiert wurde, wo man sich denn nun am besten abholen lässt.
Ich kämpfte mit mir. Hier aufhören und mich mit dem Shuttlebus zum nächsten Bahnhof fahren lassen? Oder bis km 50 selbst weiterlaufen? Und dann wäre es von dort auch nicht mehr sehr weit bis zur nächsten Ausstiegsstelle. Ich war hin und her gerissen. Kämpfen oder aufgeben?
Ich stand auf und hatte mich fürs Aufgeben entschieden. Fragte einen der Helfer, wann der nächste Bus fährt. Mit einem verschmitzten Lächeln meinte er „wenn er wieder da ist“. Ich setzte mich in einen der heillos überfüllten Aufenthaltsräume. Überall saßen und lagen Läufer rum. Teilweise sehr schwer gezeichnet. Füße wurden verarztet, Blutdruck gemessen. Aber es gab Kaffee, Tee und Würstchen. Ich goss mir einen kleinen Becher voll Tee ein um meinen Akku weiter aufzuladen. Die Wärme und das Licht waren die blanke Genugtuung. Das hektische Treiben um mich herum störte mich nicht. Ich frug eine der Helferin, ob ich etwas heißes Wasser bekommen könnte, um meine Thermoskanne wieder aufzufüllen. Sie stimmte dankenswerter Weise zu, holte frisches Wasser und stellte den Wasserkocher an. Ich füllte meinen Teetank wieder auf, hinterließ eine kleine Spende, raffte mich auf und nahm nach etwa einer Stunde Pause dann doch das nächste Etappenziel in Angriff.
Beim Verlassen des Versorgungspunktes gegen halb vier, kamen mir dann gleich mehrere Rettungswagen entgegen. Aber ich humpelte weiter. Nach ein paar Schritten hatte ich mich wieder eingelaufen und mir wurde direkt wieder warm. Es ging jetzt für die nächsten fünf Kilometer fast nur geradeaus durch den stockfinsteren dichten Wald. Nur ab und zu traf ich noch auf andere Wanderer. Eine größere Gruppe überholte mich noch frohen Mutes, wir unterhielten uns noch ein wenig, ich versuchte mich ihnen anzuschließen, aber meine Beine hatten etwas dagegen. Der Punkt war erreicht, an dem mein Körper mich nur noch hasste. Plötzlich hatte ich in einer Abbiegung die Gruppe von eben wieder eingeholt. Im Vorbeigehen sah ich, wie ein Fuß verarztet wurde. Ihr Optimismus von vor wenigen Minuten war dahin. Offene Blasen an den Füßen sind das sichere Ende jeder Wanderung. Es brennt, es scheuert, es reibt, es drückt bei jedem Schritt. Du kannst nicht mehr richtig auftreten und zack hast du noch mehr Blasen und Muskelschmerzen und Krämpfe von den Meidbewegungen.
Angeblich waren es nur 6 Kilometer bis nach Strausberg. Aber die zogen sich wie Kaugummi. Doch noch immer war ich optimistisch, auch den dritten Verpflegungspunkt nach 59 Kilometern erreichen zu können. Mir war klar, dort ist dann definitiv Schluss für mich. Ich rechnete schon nur noch mit einem Schnitt von 3 km/h inklusive der notwendigen Pausen. Aber der Glaube es bis dorthin zu schaffen war ungebrochen. Der Kopf spielte also weiterhin mit und als sich der Wald etwas lichtete, hatte ich auch das Gefühl, dass es bereits wieder etwas heller wird. Auf die Uhr habe ich nicht mehr geschaut.
Als ich dann endlich wieder aus dem Wald raus war und nach Eggersdorf kam, konnte ich die Stirnlampe endgültig wieder in die Tasche packen. Der morgen brach an. Die Nacht war geschafft. Wahnsinn. Ich suchte mir einen windgeschützten Hauseingang für ein kleines Frühstück: Energieriegel und eine Tasse Tee. Bei der zweiten Tasse kamen, wie aus heiterem Himmel, mit einem Mal gleich mehrere kleinere Grüppchen an mir vorbei. Ich rappelte mich wieder auf und versuchte zu folgen. Aber mein Motor wollte nicht mehr so richtig anspringen. Die Schmerzen in den Füßen, Beinen, Gelenken und Rücken waren inzwischen so permanent, dass mir der Spaß am Weiterlaufen verging.
Ich versuchte mich für jeden Schritt neu zu motivieren, mich zu quälen, doch es half nichts mehr. Ich wurde so langsam, dass ich bald niemanden mehr sah, weder vor, noch hinter mir. Mehrere hundert Meter weit. Zu allem Überfluss fing es nun auch noch an zu regnen. Was lange angedroht war, traf nun doch noch ein. Scheiße! Mein Kampfgeist war gebrochen und die Tatsache, dass km 50 und somit mein Minimalziel erreicht war, entzogen mir das letzte Fünkchen Motivation. Auf der rechten Seite tauchte also mein persönliches Mammutmarschziel auf. Der Bahnhof von Strausberg. Nach genau der Hälfte der Strecke. Gegen 5 Uhr morgens. Ein letztes Foto und Schluss.
Am Bahnhof angekommen, kommt einer der Streckenposten auf mich zu und verkündet mir, dass der Mammutmarsch abgebrochen werden muss. Ich nehme es in diesem Moment recht gleichgültig zur Kenntnis. Ich frage nicht einmal mehr nach und gehe zum Bahnsteig. In dem Moment fährt der Zug ein … ein kurzer Schlussspurt im Laufschritt ist noch drin. Hauptsache nicht eine Stunde auf die nächste Bahn warten müssen. Nur noch möglichst schnell nach Hause. So geht es wohl den Meisten im Zug. Alle erschöpft, müde, kaputt. Ich schicke meiner Startbegleitung eine Nachricht. Die Tatsache, dass ich mir nur noch gequält hätte, quittiert sie treffend mit: „Das war ja Sinn und Zweck der Sache“. Ich bestehe jetzt zu 2% aus Enttäuschung, 3% Stolz und 95% Schmerzen. Wieder in Berlin angekommen bin ich dann schon nur noch eine leere Hülle … mit Schmerzen. Für den Weg von der S-Bahn zu mir benötige ich das dreifache der üblichen Zeit. Die Damen und Herren aus dem Seniorenheim schauen mich mitleidig an. Noch vier Etagen Treppen steigen, ein kleines Frühstück, ein heißes Bad und ab in Bett.
Jetzt, gut vierzig Stunden später „geht“ es mir, bis auf das rechte Schienbein, schon wieder ganz passabel und ich bin stolz auf mich, die zurückgelegte Strecke und wie lange ich gegen meinen inneren Schweinehund angekämpft habe. Viel ist tatsächlich nur reine Kopfsache. Aber wie ich lernen musste eben nicht nur. Wenn der Körper streikt, ist irgendwann finito. Wenn der Punkt gekommen ist, wo nichts mehr geht, muss der Kopf immer noch stark genug sein um der Vernunft Raum zu geben und aufrecht die Herausforderung beenden zu können. Denn diese Unvernunft einiger Teilnehmer hat schließlich zum Abbruch des Mammutmarschs geführt. Die Rettungskräfte waren am Streckenposten km 44 derart überlastet, dass die Sicherheit der Läufer im weiteren Verlauf nicht mehr gewährleistet werden konnte. Einige verrückte sind dennoch bis zum Ziel weitergelaufen. Respekt!
Für mich wäre es, auch unter perfekten Umständen, nicht ansatzweise möglich gewesen. An einem guten Tag hätte ich zwar die 59 Kilometer auf jeden Fall noch geschafft, aber ob ich, mit dem bisschen Training, noch weiter gekommen wäre? Ich fürchte nicht. Es war auf jeden Fall eine krasse Erfahrung für mich. Ich konnte meine – im wahrsten Sinne des Wortes – Schmerzgrenze austesten, bin insgesamt 13 Stunden am Stück gelaufen, habe die Nacht überstanden, 50 km zurückgelegt und danach noch aufrecht die Treppen bis in die vierte Etage gestiegen.
Ob ich mir das im nächsten Jahr noch einmal antue? Für diese Frage ist es noch deutlich zu früh. Denn: Ich habe jetzt eine ungefähre Ahnung davon, warum die Mammuts ausgestorben sind!

Donnerstag, 12. Mai 2016

Abmarsch – Es gibt kein zurück

Genau zwei Tagen noch, dann ist es soweit. Und ich meine nicht den Geburtstag von meinem Opa und auch nicht den Eurovision Songcontest. Wobei mir inzwischen beides fast lieber wäre. Aber nein. Am Samstag startet der Mammutmarsch. Und für alle die es noch nicht wissen oder es schon wieder verdrängt haben, das bedeutet 100 km in 24 Stunden laufen (also gehen/wandern/marschieren).

Alle, denen ich von dieser Herausforderung erzählt habe, haben mich ja in den letzten Tagen und Wochen – vermutlich zu Recht – für bekloppt erklärt. Ist mir inzwischen auch klar. Nützt aber nix, am Samstag geht’s los. Und ich bin top vorbereitet. Habe mir extra neue Schuhe gekauft und diese auch erfolgreich eingelaufen. Dennoch werde ich mich für die alt bewährten leichten Trekkingschuhe entscheiden. Die sind schon über Gletscher und Vulkane, über Stock und Stein und durch Flüsse, Wiesen und den Himalaya mit mir darin gelaufen. Das sollte für Brandenburg eigentlich auch reichen. Diese neuen bunten Hightech-Schuhe sind einfach überbewertet. Aber immerhin konnte ich zweieinhalb Stunden lang mal alle möglichen und unmöglichen Schuhtypen im Outdoorladen durchprobieren. Hat sich ja gelohnt. Weitere Bestandteil der Vorbereitung: zwei Testwanderungen. Die erste mit knapp über 30 km verlief super. Am nächsten Tag keine Blasen oder großartig Muskelkater. Und die Strecke entlang des nördlichen Berliner Mauerwegs war auch wirklich schön. Die zweite Tour … naja … tolle Strecke durch den Grunewald, vorbei am Wannsee und am Ende entlang des Teltowkanal. Super Wetter und insgesamt 45 km. Aber meine Verfassung an dem Tag war nicht so toll. Die letzten zehn Kilometer habe ich mich mit einer Muskelverhärtung im linken Schienbein und dem Verdacht auf eine riesige Blase bis zum Ziel gequält. Über die Tatsache, dass ich unerwarteter Weise doch ohne Blase davongekommen bin, konnte ich mich nur kurz freuen. Die Muskelverhärtung war hartnäckiger als gedacht und ich konnte drei Tage gar nicht laufen. (Hier jetzt bitte ganz mitleidig schauen!) Hab mich deswegen vorab auf Arbeit schon vorsichtshalber für vier Tage krankgemeldet.

Nach dieser Erfahrung habe ich mich die letzten Wochen dann eher auf Mentaltraining beschränkt und mir vor allem gut zugeredet: „Ich schaffe das!“, „Der Weg ist das Ziel!“ „Ich bin nicht verrückt!“

Apropos verrückt. Verrückt machen sich ganz offensichtlich zahlreiche der insgesamt gut 2500 Mammutmarscher. Was da in den Facebook-Foren so für Fragen aufkamen … Fast täglich wurde nach der perfekten Schuh-Socken-Kombination, einer Anleitung zum GPS-Track-auf-der-besten-App-anzeigen oder der besten Stirnlampe gefragt. Panik brach aus, als nicht alle Teilnehmer direkt am ersten Tag alle Info-E-Mails und Startpässe – die kamen per Post … das Problem ist offensichtlich – erhielten. Reichlich Tipps wurden auch bezüglich der Verpflegung und dem Gepäck ausgetauscht. Das Spektrum reicht dabei von „‘ne Flasche Wasser und ‘ne Stulle“ bis hin zum halben Hausstand oder der Ausrüstung für eine vier- bis sechswöchige Dschungelexpedition. Meine Lieblingsfrage war aber die nach den Brandenburger Wolfsrudeln. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr in den vorpolnischen Wäldern. Diese Raubtiere warten schon sehnsüchtig auf die wilde Wanderhorde um sich endlich mal wieder so richtig sattfressen zu können. Noch heute werden abgenagte Knochenreste von Teilnehmern aus dem letzten Jahr gefunden. Einige gelten immer noch als vermisst. Ich entschied mich daher sicherheitshalber in Startgruppe 4 zu starten. Da sollte der erste Wolfshunger gestillt sein.

Am Samstag 16:30 Uhr fällt dann der Startschuss für meine bisher vermutlich größte Herausforderung. Vorher heißt es noch Rucksack packen (Wasser, Tee, ne Cola, Bananen, Brötchen, Eier, Müsliriegel, Schokolade (!), Stirnlampe, Wechselsocken und -Klamotten, Taschenmesser (für die Wölfe), Magnesium, Energieriegel, iPod und den Extra-Akku fürs Telefon. Außerdem auf gutes Wetter hoffen und bevor die Tort(o)ur beginnt, gut ausschlafen und den internen Energiespeicher bei einer Pasta-Orgie ordentlich auffüllen.

Drückt mir die Daumen! Und wenn ich dann nach etwa zwei bis drei Wochen wieder ansprechbar bin, werde ich berichten.

PS: Immer wenn irgendwo „Mammutmarsch“ steht, lese ich schon nur noch „MammutmARSCH!“. Ich habe also schon eine Ahnung wie ich mich danach fühlen werde.

PPS: Patientenverfügung und Testament liegen in der linken oberen Schublade!

Dienstag, 15. März 2016

Jenga und die verheerenden Folgen

Ab und zu, heißt es, soll man auch mal verrückte Dinge tun, aber verdammt nochmal man muss es doch nicht gleich übertreiben. Was habe ich mich immer über die ganzen Bekloppten aufgeregt, die einmal in ihrem Leben einen Marathon laufen wollen … und wie wenig Mitleid hatte ich mit den erbärmlichen Kreaturen, die sich in den letzten Jahren bei Kilometer 23 vor meiner Haustür entlang geschleift haben. Zweiundvierzigkommaeinsneunfünf Kilometer, so bescheuert müsste ich mal sein!!! Okay, ich hab‘ auch mal darüber nachgedacht, aber nur kurz, sehr kurz. Dann erinnerte ich mich an den letzten 5-km-Crosslauf und die 2 Tage voller Schmerzen danach. Schon bei dem Gedanken daran durchschießt noch heute ein übler Phantomschmerz meine Knie. Und für den nächsten Firmenlauf suche ich auch schon fleißig Ausreden und Ersatzläufer (Freiwillige vor!).
Allerdings, und das will ich gar nicht abstreiten, habe ich in den letzten Jahren immer mal wieder gefallen am Wandern gefunden. Ich bin durch den Himalaya gestiefelt, habe längere Touren auf Gozo, Teneriffa und den Lofoten gemacht und bin durch die Alpen gekraxelt. Und immer, wenn ich mal wieder fasziniert von tollen Landschaften und ungewohnt viel Sauerstoff im Gehirn etwas zu sehr euphorisiert war, schwirrte in meinem Kopf der Gedanke: Man müsste einfach mal loslaufen und schauen wie weit man kommt. Glücklicher Weise war exakt dieser Gedanke über die Jahre hinweg so tief in meinem internen Speicher verschwunden, dass ich mir sicher war, dass diese Spinnerei für immer gut dort versteckt bleiben wird.
Vor einiger Zeit dann, tauchte plötzlich in meiner Facebook-Timeline ein Event mit dem schönen Namen „Mammutmarsch“ auf und lockte den besagten Gedanken wieder einmal kurz an die Oberfläche. Ich las mir die Veranstaltungsbeschreibung durch, lachte kurz auf und stopfte die Idee wieder genau dahin, wo sie hergekommen war. Blöder Weise muss ich, beim Anklicken des Beitrags in diesem vermaledeiten sozialen Netzwerk, ganz unglücklich mit meinen Storchenfingern auf der Maus abgerutscht sein und dabei den „Daumen-hoch“-Button berührt haben. Dies sollte nicht unentdeckt bleiben und bösartige Konsequenzen nach sich ziehen.
Einige Wochen vergingen und es schien bereits Gras über die Sache zu wachsen, als ich auf einer Party, völlig unerwartet darauf angesprochen wurde. „Ob ich da denn mitmachen wöllte?“, wurde ich gefragt … ich lächelte milde, nahm einen kräftigen Schluck aus meiner Bierflasche, in der Hoffnung, danach schnell das Thema wechseln zu können. Was mir wohl auch gelungen ist. Jedoch sollte der Erfolg nur von kurzer Dauer sein.
Die Party schritt voran und die ersten Kicker-Figuren brachen vor lauter Erschöpfung zusammen. Alle immer noch feierwütigen Gäste stärkten sich in der Küche bei einem nachmitternächtlichen Snack, als ein Unbekannter (keine Namen! Ich kann mich auch wirklich nicht mehr an alle Details erinnern und würde im Zweifelsfall sowieso jegliche Beteiligung oder gar Schuld leugnen) den Vorschlag unterbreitete, den Jenga-Turm auszupacken und das Spiel im Fortgeschrittenen-Modus – Motto „Bei Einsturz Schnaps“ – zu spielen. Unter Berücksichtigung der äußeren Umstände – fortgeschrittene Uhrzeit, diffuses Licht, teppichweicher Untergrund – stapelte wir die Bauklötze doch noch recht eindrucksvoll und nur hin und wieder musste tatsächlich ein Kurzer getrunken werden. 
Irgendwann, in einer Phase zwischen höchster Konzentration und, wie böse Zungen behaupten, kurz vorm Verlust der Muttersprache, scheine ich einen kleinen Moment der Leichtsinnigkeit gehabt zu haben. Und dieser wurde eiskalt und schamlos ausgenutzt. Mit einem heimtückischen Lächeln auf dem Gesicht wurde mir, da der Turm nun deutlich öfter und hauptsächlich von den anderen Mitspielern eingerissen wurde, ein Überbrückungsvodka angeboten und erneut die Frage gestellt, ob ich nicht vielleicht mit am Mammutmarsch teilnehmen würde…
Was soll ich sagen, ich war wohl doch nicht mehr einhundertprozentig zurechnungsfähig und um ehrlich zu sein, konnte ich mich am nächsten Tag auch nicht mehr wirklich daran erinnern. Dummerweise gab es relativ belastende Zeugenaussagen und eine konkrete Nachfrage am Tag. Es blieben mir also nur zwei Möglichkeiten: Entweder den Schwanz einziehen und ewig mit der Schmach zu leben, oder die Suppe auszulöffeln und die Anmeldung zum Mammutmarsch auszufüllen und abzuschicken.
Jetzt gibt es definitiv kein Zurück mehr und Mitte Mai heißt es nun einhundert Kilometer in vierundzwanzig Stunden – Heidewitzka! Richtig gelesen, 100 km (!) in 24 Stunden (!) zu Fuß!!! Verrückt, um nicht zu sagen dezent bekloppt. Aber egal, warum nicht mal wieder die eigenen Grenzen ausloten. Das Ziel heißt überleben.
Ich werde berichten, von den Vorbereitungen, den Trainingseinheiten und den Schmerzen.
PS: Notiz an mein Zukunfts-Ich: SPIEL NIE WIEDER JENGA!

Mittwoch, 18. November 2015

Tod der Meinungsfreiheit

Ehrlich gesagt, ich bin langsam überfordert. Wem oder auf was kann man heute eigentlich noch trauen, außer dem eigenen Gewissen? Doch selbst das fällt immer schwerer. Sobald man glaubt, seine eigene Meinung, Lösung oder Antwort gefunden zu haben, wird man von allen Seiten mit anderen Wahrheiten bespuckt. Sei es das widerliche Propagandageschwätz einiger geistiger Tiefflieger, die von den Medien dahingerotzte, immer nach der reißerischsten Schlagzeile und größeren Gefällt-mir-Klicks-Anzahl lechzende, denkfrei vorgefertigte Meinung oder auch nur die belehrend-klugscheißerische ich-muss-überall-meinen-Senf-dazugeben Allwissenheit von Social-Media-Geistern.  Von wegen „Bild dir deine Meinung“ … friss meine Weisheit oder stirb! scheint das gültige Motto zu lauten.
Am leichtesten ist dabei definitiv der Umgang mit den Überzeugungen der Schwachmaten – egal ob Nazi oder religiöser Fanatiker. Deren Gedankengänge kann und werde und will ich im Grunde auch gar nicht verstehen, auch wenn die Fragen nach dem Warum? und Wieso? immer wieder auftauchen werden. Wer derart menschenverachtend „denkt“ und handelt, dem ist sowieso nicht zu helfen.
Weitaus beängstigender ist für mich das, was die Massenmedien so treiben. Da wird im Sekundentakt auf Basis von Vermutungen Stimmung gemacht, ohne auch nur einen Augenblick über die Tragweite des Gesagt- oder Geschriebenen nachzudenken. Oder eben vielleicht doch (?) nur eben nicht im Sinne der Vernunft, sondern im Sensationswahn – Lauter, Schneller, Härter – ohne Rücksicht auf Verluste.

„Es gibt keinen Unsinn, den man der Masse nicht durch geschickte Propaganda mundgerecht machen könnte.“ (Bertrand Russell)

Mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs werden vage Vorahnungen als Fakten über den Liveticker gejagt und die Themen, unter dem Deckmantel der journalistischen Informationspflicht, bis in die letzte Ecke ausgehöhlt. Dinge, bei denen man sich fragt: Ist das wirklich wichtig? Will ich das Wissen? Was soll ich mit dieser Information anfangen? Sind wir Menschen wirklich so sensationsgeil, dass wir uns an verwackelten Handybildern vom Tatort, herumliegenden Opfern, verstörten Augenzeugen, zutiefst traurigen Angehörigen oder unter extremsten Bedingungen arbeitenden Sicherheits- und Rettungskräften ergötzen müssen?
Die Medien lassen uns heute keine Zeit mehr zum Nachdenken, zum Luftholen, zum Begreifen. Ob sekündliche Sondersendungen auf allen Kanälen, Breaking News, Liveticker, Facebook-Posts, Tweets und Hashtags – Sozial-ADHS. Und dann kommt da so ein Fernsehkasper und stellt einfach mal so 100 offene Fragen in den Raum, teils hilflos, teils zynisch, teils einfach nur erschütternd ehrlich und irgend so einem Klatschpappen-Redakteur fällt nichts Besseres ein, als diese Fragen krampfhaft kläglich, mit Dampfhammer Witz, bei dem selbst Mario Barth als Humorfeingeist wirkt, dafür aber ohne jegliches Taktgefühl und Nachdenken in seine Tastatur zu kloppen und in DIE WELT hinauszuschießen.
Und dann dieses heuchlerische Mitgefühl, plötzlich sind wir alle Charlie oder Paris, denn es sind ja „Auch Deutsche unter den Opfern“. Dann haben wir gefälligst auch alle betroffen zu sein. Wenn sich aber in Afrika die Neger untereinander niedermetzeln oder sich die Alis in der arabischen Welt gegenseitig in die Luft sprengen (an dieser Stelle entschuldige ich mich für meinen Zynismus und die bewusst provokante Wortwahl), dann ist das in den News von heute vielleicht noch eine Kurzmeldung wert, morgen aber schon wieder verdrängt. Einhundert sinnlose Opfer bleiben einhundert sinnlose Opfer, egal wo auf dieser Welt. Auch wenn es nicht einfach ist, wir dürfen uns nicht von dieser einseitigen Berichterstattung – oder soll ich besser medialen Propaganda sagen – vereinnahmen lassen und blind und unreflektiert irgendetwas nachplappern, nur weil es in irgendeiner Zeitung steht oder von einem C-Promi getwittert wurde. Denn „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung […]“ (Artikel 19, UN-Menschenrechtscharta). Das bedeutet aber auch, dass jeder frei rausposaunen kann, was er will und sei es der größte Unfug.
Darüber hinaus heißt das aber auch, dass jeder das Recht hat, sich seine eigene Meinung zu bilden und diese kundtun darf, aber – jetzt kommt`s – nicht zwangsläufig auch kundtun muss. Und Meinung heißt nicht gleichzeitig auch Wahrheit!
Wenn jetzt also jemand auf Facebook seine Gedanken und nicht nur ein ganz „zufällig“, unter Zuhilfenahme eines extra dafür produzierten Stabes, geknipstes Selfie, postet, dann kannst du dem zustimmen oder auch nicht. Dann kannst du sogar noch schreiben, dass du das ganz anders siehst. Aber in den meisten Fällen (diese Einschränkung muss man leider machen) musst du dich weder direkt persönlich angegriffen fühlen, dich als allwissender Klugscheißer gebären, geschweige denn rumpöbeln, was das Zeug hält. Ja, es ist nicht ganz leicht irgendwo in den „sozialen Medien“ etwas von sich zu geben, ohne dass sich davon jemand gleich auf den Schlips getreten fühlt und der Grat zwischen "Das wird man wohl noch sagen dürfen" und "was gesagt werden muss" wird zusehends schmaler. Was dagegen hilft? „Erst denken, dann schreiben!“ (hat mir meine Mutter beigebracht) und am besten noch einmal tief durchatmen oder im Zweifel „einfach mal die Fresse halten“.

„Da wir uns miteinander nur durch das Wort zu verständigen vermögen, verrät, wer es fälscht, die menschliche Gemeinschaft. Es ist das einzige Mittel, durch das wir unseren Willen und unsere Gedanken austauschen, es ist der Mittler unserer Seele. Wenn wir es verlieren, so haben wir keinen Zusammenhang und keine Kenntnis mehr voneinander. Wenn es uns betrügt, so zerstört es allen unseren Umgang und zerreißt alle Bande unserer Gesellschaft.“ (Michel de Montaigne)

PS: Hier hätte fast noch ein Absatz gestanden, in dem es um die „Meinungsäußerungen“ einiger Politiker u. ä. gegangen wäre. Ich habe mich aber dazu entschieden, mich in diesem Blog generell nicht direkt politisch zu äußern. Bin mir aber sicher, meine Haltung zu bestimmten Themen ist trotz allem deutlich genug zu erkennen.

Montag, 24. August 2015

Das Upgrade – lehnen Sie sich entspannt zurück


Ja, ich weiß, es gehört schon eine erhebliche Portion Leichtsinn, Übermut, Naivität und Chuzpe dazu, schon jetzt ein Upgrade von Windows 8.1 auf den unfassbar zukunftsweisenden Nachfolger Windows 10 zu wagen. Doch seit geraumer Zeit leuchtet in meiner Taskleiste dieses kleine unscheinbare Symbol mit den vier Kästchen und tönt beim roll-over ganz keck mein Windows-Upgrade wäre verfügbar. Und dann ist da noch die seit Ende Juli in Dauerschleife laufende Werbung mit den niedlichen kleinen Kindern und den unzähligen tollen Versprechungen. Das hat mich einfach komplett überzeugt!

Ein neugieriger Klick auf das Mini-Icon und wie von Geisterhand springt mir ein Pop-Up entgegen, lobt meine Courage und führt mich – beinahe alternativlos – dazu in Versuchung, mich für das kostenfreie Upgrade zu registrieren. Ich gebe großzügig meine E-Mail-Adresse preis und erhalte im Gegenzug prompt den Hinweis: „kann ne Weile dauern bis de dran bist!“.

Tatsächlich blinkt seitdem täglich die Warnung auf, mein persönliches Upgrade würde nur noch kurze Zeit zur Verfügung stehen. Ein deutlicher Ansporn, es mir nicht noch einmal anders zu überlegen und mir das Motto „Never touch a running system!“ zu sehr zu Herzen zu nehmen. Gleichzeitig wird die Vorfreude auf mein neues Betriebssystem dadurch von Minute zu Minute ins nahezu Unermessliche gesteigert. Nach einigen Tagen blinkt dann endlich eine andere Meldung auf und suggeriert mir, ich könnte nun mit dem Update beginnen.

Meine Neugier und mein Mut werden plötzlich jäh von einem Anflug von Vorsicht ausgebremst. – Flashback: Wie oft ist Windows bei Installationsversuchen seit der 95er Version bisher einfach abgeschmiert oder hat sich mit ServicePacks und automatischen Sicherheitsupdates selbst geschrottet? – Ich minimiere das kleine Fenster, welches mich freundlichst anbettelt: „Klick hier! Und alles wird besser!“, beende alle laufenden Anwendungen, sichere sämtliche auf Laufwerk C gespeicherten Daten, erstelle einen Wiederherstellungspunkt und hole mir einen Schnaps. Dann schaue ich auf die Uhr. Es ist schon spät. Ich möchte ruhig schlafen und beschließe für den morgigen Tag einen neuen Versuch zu starten.

Nächster Tag, ich starte meinen  Laptop und werde erneut von der Meldung „mein kostenfreies Upgrade stünde jetzt! bereit“ begrüßt. Ich überwinde alle Zweifel und klicke mich durch den Upgrade-Dialog. Mein Puls erreicht langsam wieder Normalniveau als ich lese und realisiere, dass das Update nun erst einmal auf meinen Rechner heruntergeladen wird. Da genug Speicherplatz vorhanden sein sollte, minimiere ich das Fenster und widme mich spannenderen Aufgaben. Nach einigen wenigen Stunden (ich kann leider wirklich nicht mehr genau sagen, wie lange der Downloadprozess gedauert hat) ploppt ein größeres Fenster auf und konfrontiert mich mit der Frage, ob ich nun, wo alle Daten heruntergeladen wurden, dass Update auf Win10 nicht auch gleich direkt ausführen wollen würde? Klare Antwort: Nein! Ich plane das Update für zwei Tage später ein. Mehr Spielraum ist auch nicht.

Die beiden Tage sind rum, ich habe mich seelisch und moralisch auf die Umstellung von 8.1 auf 10 eingestellt, mir Nervennahrung bereitgelegt und Beistand von Freunden, Familie und Kollegen eingeholt. Ich prüfe noch einmal, ob ich alle wichtigen Daten von C gesichert habe und erstelle erneut einen Wiederherstellungspunkt. Doppelt hält besser! Dann starte ich das Update und der Bildschirm erstrahlt in hellblau. Darauf ist in weißer Schrift zu lesen: „Das Update für Windows 10 wird konfiguriert. 0% abgeschlossen. Schalten Sie den Computer nicht aus.“

Bis etwas passiert, vergeht einige Zeit. Als aus 0% dann 1% wird, entscheide ich voller Optimismus „läuft!“ und bereite mir Abendessen zu. Gelegentlich schaue ich nach dem Fortschritt. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, aber es ist ja noch hell draußen.

Es vergehen etliche Minuten, doch die Prozentangabe entwickelt sich kontinuierlich. Nachdem die 100% erreicht sind, wird der Bildschirm dunkel. Mittig leuchtet ein Kreis auf und umrahmt die nächste Prozent-Fortschritts-Angabe. Die 0% wirken ernüchternd. Darüber prangt in großen weißen Lettern der Schriftzug „Windows-Upgrade wird durchgeführt“. Deutlich kleiner darunter: „Ihr PC wird einige Male neu gestartet, währenddessen können Sie sich entspannt zurücklehnen.“ – „Entspannt zurücklehnen …?“ Bei einem Windows-Update. Ein Scherz?! Ich lache auf. Galgenhumor. Kalter Angstschweiß  auf meiner Stirn. Entspannt zurücklehnen? Entspannt zurücklehnen! Ich versuche mich zu beruhigen. Da steht immer noch 0%. Ich schaue nach meinem Essen. Süßkartoffelgratin. Das ist fast fertig. Das Rezept gibt’s bald. Ich gehe zurück, schaue auf den Laptopmonitor … 0%. Ich esse vorm TV. Gleich kommt Fußball. Ich gönn mir und meinen Nerven ein Bier. Plötzlich geht es zügig voran. Das erste Drittel ist schnell geschafft. Ich bin erstaunt als sich der Laptop urplötzlich neu startet. Ich werde kurz unruhig, was sich aber rasch wieder gibt, als das Update scheinbar problemlos weiterläuft. Ich schaue Nachrichten und mit einem Auge immer wieder auf den Monitor. Gelegentlich stoppt die Fortschrittsanzeige, was mich nicht weiter aus dem Konzept bringt, wurschtelt sich aber bis ins dritte Drittel vorwärts und knackt, nach ungefähr einer Stunde, die 90%-Marke… 91%! Noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff. Dann ist das Update locker fertig und meine Mannschaft fegt dann ganz entspannt den Underdog aus Norwegen vom Platz.

Anpfiff! 91%! Egal jetzt ist Fußball.

15 Sekunden später: 91%. Mein Team liegt 1:0 zurück.

20 Minuten später: Immer noch 91%. Es steht jetzt 0:2! Entspannt zurücklehnen … am Arsch!

Nochmal 2 Minuten später: Scheiß auf das Windows-Update! Es steht 0:3! Ich poltere laut fluchend durch mein Wohnzimmer.

Halbzeit: es steht immerhin 3:1. Das Update hat sich seit gut anderthalb Stunden keinen Millimeter mehr bewegt. Draußen ist es inzwischen dunkel. Ich werde etwas ungeduldig und google nach „Windows 10 Upgrade hängt“ … Toptreffer „… bei 91%“. Jackpot! Scheint also öfter vorzukommen. Ich klicke mich durch diverse Foren und lese, dass das Update zwischen 25 Minuten und sieben Stunden dauern kann. Das Spiel geht weiter, ich lese weiter. Es könnte an der Antiviren-Software liegen. Möglich. Kurz nach der Pause fällt das 3:2. Meine Gemütslage bessert sich etwas. Viele empfehlen das Upgrade abzubrechen, Virenscanner deaktivieren, neu starten. Andere meinen, man muss nur Geduld haben. Ich denke über einen Abbruch des Updates nach. Versuche nur noch herauszubekommen wie. Mein Verein vergibt eine Großchance nach der anderen. Das Update hängt weiterhin bei 91%.

Die 76. Minute. Endlich fällt der längst überfällige Ausgleich. Ich brülle vor Erleichterung die Nachbarn wieder aus dem Schlaf und hoffe nun noch auf den möglichen Siegtreffer. Inzwischen habe ich mich vorerst gegen einen Update-Abbruch entschieden. Notfalls läuft das Ding halt über Nacht.

Das Spiel geht noch gut sechs Minuten plus Nachspielzeit. Die Chancenverwertung lässt weiterhin zu wünschen übrig. Schließlich fällt doch noch das erlösende 4:3. In einer wilden Kombination aus Freude, Fassungslosigkeit  und Erleichterung drehe ich mich um und sehe im Augenwinkel, wie plötzlich aus der 91 eine 92 wird. Da steht immer noch „Lehnen Sie sich entspannt zurück“. Das erste Mal seit zweieinhalb Stunden kann ich mich etwas beruhigt auf mein Sofa fallen lassen. 93%.

Das Spiel ist vorbei und die Fortschrittsanzeige quält sich langsam über die Zielgerade. 95%. Nach gut fünf Stunden erscheint endlich wieder ein blauer Desktophintergrund. Ich melde mich an und werde darüber informiert, dass sich das System jetzt nur noch ein wenig einrichtet. Eine halbe Stunde später blinkt nix mehr, es drehen sich keine kleinen Rädchen oder Symbole flackern auf. Windows 10 ist offiziell installiert. Ich schalte den Laptop aus.