Es ist Montagmorgen! Aber nicht irgendein morgen, nein, es
ist der 14. Juli 2014. Der Montag nachdem Abend, an dem die Deutsche Fußball
Nationalmannschaft zum vierten Mal Weltmeister geworden ist, im Finale gegen
Argentinien, gegen Lionel Messi, in Brasilien, in Rio, im legendären Maracana.
Der langersehnte Titel, vierundzwanzig Jahre nach dem letzten WM-Triumph in Rom
über – genau – Argentinien. Wieder war es ein Tor, das am Ende die Entscheidung
brachte. Ein Tor, das Fußballdeutschland nun bis in alle Ewigkeit im Gedächtnis
bleiben wird, zu dumm nur, dass ausgerechnet der schlechteste Kommentator, den
das öffentlich-rechtlich Fernsehen zu bieten hat, diesen Moment komplett
vergeigt hat und auch dieser Dilettantismus nun bei jeder Gelegenheit
wiederholt wird. Das hat dieses herausragende Tor ehrlich nicht verdient.
Das Drama über 120 Minuten liegt nun gute zehn Stunden
zurück. Ich habe (immerhin) knapp vier Stunden davon Schlaf bekommen und es
nahezu pünktlich an meinen Arbeitsplatz geschafft. Auf dem Weg dorthin war es
für Berliner Verhältnisse erstaunlich ruhig. Alle Autos tuckerten leicht
beseelt vor sich hin, Fußgänger warteten geduldig an roten Ampeln und
gelegentlich hielt sich sogar ein Radfahrer an die Straßenverkehrsordnung. Das
sah sechs/sieben Stunden vorher erheblich anders aus. Wild beflaggte Autos
bahnten sich, recht undeutsch, hupend, trötend, grölend, mit aus allen Fenstern
hängenden Gestalten in billigen Trikotimitaten, ihren Weg kreuz und quer durch
die Straßen der Hauptstadt. Das was gern als Autokorso bezeichnet wird, hatte
eher Ähnlichkeit mit der Rushhour in Kathmandu, mit dem Unterschied, dass keine
Kühe mitten auf der Straße stehen, die rücksichtsvoll umfahren werden. In
dieses Gewirr aus Blech mischen sich Umherziehende mit fragwürdigen
Kopfbedeckungen und verschmierter Kriegsbemalung, ebenso schmerzbefreit, wie
besoffen. Durchschnitten wird das Lärmgemänge aus Hupen, Gegröle,
Gesangsversuchen, Feuerwerk – das teilweise eher an einen Bombenangriff
erinnert – und gelegentlich zerberstenden Flaschen, nur durch hektisches Blaulicht
und Tatütata. Der ruhigste Ort um diese Zeit ist eine Bushaltestelle, an der
ich irgendwann strande. Laut Fahrplan sollte dort gelegentlich noch ein Bus
vorbei kommen. Nach etwa einer Halbzeit warten, einem Bus der ohne mit der
Wimper zu zucken an der Haltestelle vorbeifährt, erlischt plötzlich die
Beleuchtung, die untrügliche charmant-berlinerische Art zu sagen: hier ist
Feierabend, dein Problem, wie du nach Hause kommst. Also auf zur nächsten
U-Bahn-Station, eine gute viertel Stunde immer geradeaus, nur um dort
festzustellen, hier brennt zwar noch Licht, aber Züge fahren hier bis
Sonnenaufgang auch keine mehr. Die Freude und gute Laune sind, unerklärlicher
Weise, plötzlich wie vom Winde verweht, oder besser gesagt, vom
wiedereinsetzenden Regen davon gespült. Nach kurzem, verwirrtem Umherstreunen,
entschließe ich mich in den Wettkampf um ein Taxi einzusteigen. Dieser, unter
diesen Umständen recht beliebte Volkssport, verlangt erneut eine gehörige
Portion Geduld, Cleverness, Glück und Schnelligkeit. Der Gedanke daran, dass
das letzte Bier inzwischen auch schon neunzig Minuten plus Nachspielzeit
zurückliegt, ist zwar meinem körperlichen Zustand am jetzigen Montagmorgen
dienlich, zur aktuellen Stunde aber wenig erbaulich. Nach zahlreichen
Winkversuchen hält dann endlich ein hellgelbes Automobil – mit nur einem Stern
– neben mir. Ich springe hinein, während die letzte Passagierin noch bezahlt
und wecke mit meinem Fahrtzielwunsch nur mittlere Begeisterung bei der
Taxifahrerin. Sie ist erstaunlich kommunikativ und entspricht so gar nicht dem
Berliner Taxifahrer-Klischee, das macht die Fahrt zwar relativ entspannt, aber
irgendwie hätte in dieser Situation eine Berliner Schnauze, die das
schwarz-rot-goldene Treiben auf den Straßen entsprechend herzhaft kommentiert,
auch seinen Charme gehabt. Ich schildere ihr kurz mein Schicksal und den Groll
auf die Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel. Wir finden diesbezüglich
recht schnell einen Konsens und lassen den Kotti hinter uns. Nach einigen
Minuten Fahrt Richtung Ku’damm überholen wir den Bus, der mich einige Zeit
zuvor ignoriert hat. „Ich möchte jetzt nicht mehr umsteigen!“ Wir kämpfen uns
im Slalomverfahren durch die berühmte Rote-Welle und je weiter wir uns dem
Feier- und Autokorso-Hotspot nähern, umso häufiger springen Nachhause-wollende
und Straßen-querende ans Auto heran oder vor die Motorhaube. An einer Ampel
taucht eine Fanin an der Fahrertür auf und fragt zu unser aller Überraschung
nach einem Starthilfekabel. Vermutlich kann sie zu dieser fortgeschrittenen Stunde
das Gelb einer Taxe nicht mehr von dem eines ADAC-Wagens unterscheiden. Eine
Ampel später klopfen zwei mittelschwer angetrunkene Gören an die Scheibe und
fragen freundlichst: „NEUKÖLLN!?!“ Da sie auf der Beifahrerseite stehen,
antworte ich direkt: „Sorry, Besetzt und … falsche Richtung.“ Ihr Blick verrät
mir, dass waren schon zu viele Informationen für die Beiden. Nach der nächsten
Ampel stehen wir, nicht gänzlich
unerwartet, direkt vor einer Polizeistraßensperre und ebenso plötzlich
stehen wir in Mitten einer Menschentraube, die – im spontanen Übermut der
Euphorie – Dach und Motorhaube für ein zwar lautes, aber erbärmlich
unrhythmisches Trommelsolo missbrauchen. Einen vollständigen Ampellichterzyklus
später kommen wir über die Kreuzung hinweg, umfahren die Fan-Meute bis zu
nächsten zugeparkten Kreuzung. Als die Ampel dann grün zeigt, stimmen wir
zaghaft in das Hupkonzert mit ein und eine Handvoll hilfsbereiter Halbstarker
schiebt kurzer Hand die herumstehenden Autos so zurecht, dass zumindest eine kleine
Gasse für Hindurch-fahren-wollende entsteht. Kurz vor dem Ziel schlage ich
meiner Taxifahrerin vor, mich doch direkt an der Bushaltestelle abzusetzen,
damit sogleich der Nächste meinen Platz übernehmen kann. Das Taxameter hätte
dann auch weiterlaufen können … der letzte zahlt! Hätte beinah auch geklappt,
beim Rechts ranfahren kommen schon die nächsten Kandidaten auf das Taxi
zugestürmt. Diese wirken jedoch schon auf den ersten Blick derart besoffen,
dass sie entscheidet, doch lieber weiter zu fahren, bis sie auf angenehmere
Kundschaft trifft. „Auswahl gibt es heute ja genug und die Nacht wird wohl noch
lang“, meinte sie, während ich zahle. „Es ist ja erst so halb um Eins?“ fragt
sie, als ich die Tür öffne. Ich steige aus, drehe mich um und verabschiede mich:
„Nee, das reicht nicht mehr, ist kurz nach Drei! Noch eine unfallfreie Nacht.
Tschö.“
Zu Hause angekommen, werfe ich noch einen schnellen Blick in
die sozialen Netzwerke und verschiedenen Newsseiten um die ersten
überschwänglichen Reaktionen aufzusaugen, die von emotionalen Feierbildern
(Selfies) der Spieler, über geistreiche Kommentare à la „WELTMEISTER!“, zum
Glück auch lustigen Sprüchen und Gratulationen aus aller Welt, aber auch bis
hin zu schlechtesten Wortspielen wie „GöTZ sei Dank“ reichen. Überall sind
Spielerfrauen und die Bundesangie mit Deutschlandkette – da konnte ja nix
schief gehen – zu sehen. Ich gehe ins Bett. In vier Stunden klingelt der
Wecker.
Es ist Montagmorgen! Aber nicht irgendein morgen, nein, es
ist der Montag nachdem Abend, an dem die Deutsche Fußball Nationalmannschaft
zum vierten Mal Weltmeister geworden ist. Als ich im Büro ankomme, ist es auf
dem Gang auffällig still. Eine Mischung aus leider kurzfristig erkrankt und
spontanem Überstundenausgleich liegt in der Luft. Vor dem Kaffeeautomaten sehe
ich den ersten Kollegen, er steht dort fast apathisch und fragt mit gequältem
Lächeln: „Na, fit? Sensationelles Spiel!“, ich nicke ihm zu, gehe zu meinem
Arbeitsplatz, schalte den Rechner an und begebe mich umgehend zurück Richtung Koffeintankstelle.
Es ist Punkt neun Uhr und vor dem Kaffeeautomat hat sich eine Schlange
gebildet, gesprochen wird noch nicht. Alle verarbeiten noch die vergangene
Nacht. Der Kaffeeautomat wird heute wohl am härtesten arbeiten müssen. Kurz vor
der Mittagspause steht dann ein Servicetechniker vor dem geöffneten Automaten.
Die Zuversicht steigt, dass alle den Tag halbwegs überstehen werden und uns der
Alltag alsbald wieder einholt.
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