Sonntag, 19. Oktober 2014

Lost in Train Station II



Das Wochenende verlief extrem entspannt. Wir genossen das spätsommerliche Wetter, ließen es uns in Cafés, Biergärten, Restaurants und Bars gut gehen, erkundeten die verschiedensten Sehenswürdigkeiten, schipperten über den Neckar, sahen Anderen dabei zu, wie sie schwitzend-schnaufend den Königstuhl hochrannten, während wir die gemütliche Tourivariante mit der historischen Drahtseilbahn bevorzugten und uns, nach dieser wahnsinnigen Anstrengung, erst einmal mit einem kühlen Getränk erfrischen mussten, um die Aussicht entsprechend würdigen zu können. Zwei Tage ohne Hektik und Stress. Ein Hauch von Urlaubsgefühl stellte sich ein und bis etwa Sonntag 15 Uhr genossen wir das Leben in vollen Zügen … ach nee, Moment, der Teil mit den vollen Zügen sollte ja erst noch kommen.
Mit der Entspannung war es am frühen Sonntagnachmittag dann aber vorbei, als mir plötzlich bewusst wurde, dass der Montag immer näher rückte und es bis zurück nach Berlin, wohl oder übel noch ein Weilchen dauern würde. Eine passende Zugverbindung zum Flughafen hatte ich mir vorab bereits rausgesucht und so packte ich, trotz allem gut gelaunt, meinen Koffer. Bevor ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte, wollte ich – eigentlich nur pro forma und nichts Böses ahnend – eben kurz meine Zugverbindung von Heidelberg nach Frankfurt Main Flughafen Fernbahnhof prüfen. Beim Anblick des rot leuchtenden Warnsignaldreiecks verschob sich meine rechte Augenbraue spontan Richtung Haaransatz, die Augen drehten ein, zwei Loopings und die gesunde Gesichtsfarbe wich einem dezenten aschgrau. Dank der Tatsache, dass – wie ich bei genauerem Hinsehen feststellen konnte – trotz Signalstörung nur circa zehn Minuten – kein Problem – Verspätung angedroht wurden, ließ, in Kombination mit leicht aufsteigendem Bahn-Hass, wieder etwas Farbe, wenn auch mit erhöhtem Rotanteil, in mein Gesicht zurück kehren und ich machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Schnell noch ein Zugticket gekauft und ab in die Regionalbahn nach Mannheim. Pünktlich! Dort angekommen, wechselte ich rasch auf den benachbarten Bahnsteig und stand plötzlich in einer übellaunigen Menschenansammlung, die die Stuttgart-21-Demonstrationen rückwirkend als geselliges Volksfest erscheinen ließen. Ein kurzer Blick auf die Anzeigetafel erklärte das wilde Treiben: „circa. 25 Minuten Verspätung“. Ich schaute auf meine Uhr, rechnete kurz nach und konnte beruhigt konstatieren, dass mir in Frankfurt trotzallem noch eine gute halbe Stunde Luft bis zum Gate blieb. Recht knapp, aber wird schon passen. In diesem Moment fiel mir auf, dass auf dem Nachbargleis ein Intercity mit Halt in Frankfurt Hauptbahnhof stand und wohl alsbald abfahren würde. Ich fand recht zügig ein Mitglied des örtlichen Servicepersonals und konfrontierte ihn mit der Frage, wann denn dieser Zug in der Bankenmetropole ankommen würde. Antwort: „Gegen 17.30 Uhr.“ Ich schaute etwas verdutzt, denn für die Strecke Mannheim Frankfurt werden normaler Weise gut dreißig und nicht über sechzig Minuten benötigt. Kurz überlegt und ermittelt wie lange die S-Bahnfahrt vom Hauptbahnhof zum Flughafen dauert und entschieden, dass es tatsächlich keinen Vorteil bringen würde – theoretisch. Ich kam dann zufällig mit dem einzig wirklich unbeeindruckten am Bahnsteig stehenden Typen ins Gespräch. Er wollte auch zum Flughafen, um von dort weiter nach Peking zu reisen, geschäftlich. Er hatte gerade die Information erhalten, dass sein Flug gut fünfeinhalb Stunden Verspätung haben würde, was seine der eigentlichen Situation völlig unangemessene Gelassenheit erklärte. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, ebenfalls über die Unzumutbarkeit der Zustände bei der Bahn im Allgemeinen und im Speziellen zu wettern. Auf dem Gleis direkt vor uns fuhr eine Regionalbahn ein und stiftete kurz zusätzliche Verwirrung. Wir unterhielten uns ein wenig, ich schilderte ihm meine zunehmende Zeitnot und erhielt dafür beruhigenden Zuspruch. Als wir plötzlich von einer Schülerin, leicht außer Atem, angesprochen und gefragt wurden, ob den die Regionalbahn schon durch sei. Wir schauten uns an und mussten ihr leider mitteilen, dass diese offensichtlich vor wenigen Augenblicken abgefahren sein musste, denn der Zug stand nicht mehr vor uns. Sie stampfte fluchend auf und stöhnte: „Ist das Drecksding schon wieder zu früh abgefahren!“. Ich vermute spontan, die Bahn versucht mit diesem Trick ihre Statistik aufzubessern: 25 Minuten zu spät, plus 3 Minuten zu früh, sind schon nur noch 22 Minuten Verspätung, oder ein Zug zu spät, einer zu früh, bedeutet im Mittelwert alle pünktlich. Die Schülerin zischt davon und wir warten weiter auf den ICE. Die prognostizierte Verspätung ist fast rum, als die Durchsage ertönt, der ICE würde gleich einfahren. Kurz darauf folgt die nächste Ansage: „Der ICE nach Dortmund verkehrt heute nur mit einem Zugteil in den Abschnitten A bis C“. Kluge Entscheidung, Sonntagnachmittag sind, vor allem nach einem langen Wochenende, im Verhältnis zu sonst auch eher weniger Passagier zu erwarten. Auf diese Information hin bewegt sich die versammelte Menschenmasse in Richtung der Abschnitte A bis C und komprimiert sich ebenda. Der ICE fährt ein, ein Blick auf die Uhr, auf ein paar Minuten kommt es nun auch nicht mehr an, und mit Mühe und Not quetschen sich die wenigen Aussteige Willigen durch die wartende Menge aus dem schon mehr als gut gefüllten Zug. Die letzten kollidieren schon unausweichlich mit den Sitzplatzjagenden Einsteigern. Schon mal gesehen, was passiert, wenn man etwas Futter in ein Becken voller hungriger Piranhas wirft? So ungefähr ging es in etwa zu diesem Zeitpunkt auf dem Mannheimer Hauptbahnhof zu. Als sich dann endlich alle in den Zug gedrängt hatten, ich konnte einen Stehplatz direkt zwischen Gepäckverstauraum und Türbereich ergattern – so käme ich an der nächsten Station wenigsten wieder recht schnell aus dem ICE raus – tauchte ein Zugbegleiterin mit dem charmant-freundlichen Gesichtsausdruck einer Abrissbirne vor der Tür auf und plärrte: „Sie könn‘ direkt wieder aussteigen, der Zug fährt SO!!! nicht los. Könn‘ se vergessen!!!“. Sämtliche Zuginsassen – selten passte die Beschreibung besser – schauten sich an, blickten mit dem unmissverständlichen Gesichtsausdruck „WIR steigen HIER nicht aus! Kannst DU voll vergessen!“ Richtung Uniformtante. Diese wiederholte Ihre liebevolle Ansage, überraschender Weise ohne spürbaren Effekt. Interessanter Weise habe nicht nur ich, sondern auch zahlreiche andere Passagiere, schon vollere Züge fahrend erlebt. Ein älterer Herr steht mir gegenüber und meint, dass der selbe Zug jeden Morgen und jeden Abend mit deutlich mehr Pendlern gefüllt ist, als gerade jetzt. Schließlich besteht immer noch die Möglichkeit, sich durch die Gänge zu quetschen und auch übermäßiger Körperkontakt ist noch gut zu vermeiden. Die Stimmung im Zug selbst ist noch relativ gelassen – der geballte Hass kanalisiert sich auf die Bahn an sich und die Zugbegleiterin im Speziellen. Sogar ich bleibe, wenn auch mit nervöser werdendem Blick auf meine Uhr und einer Mischung aus Schicksalsergebenheit und Zweckoptimismus, unverhältnismäßig entspannt. Der ICE steht nun schon etwa zehn weitere Minuten regungslos im Bahnhof, draußen ertönen im unablässigen Wechsel die verschiedensten Verspätungsansagen über sämtliche Gleise, als sich der Lokführer zu Wort meldet und mitteilt: „Wir fahren so nicht weiter! Wer jetzt aussteigt und den nächsten Zug nimmt, bekommt einen fünfundzwanzig Euro Gutschein von der Bahn.“ (Das lass ich erst mal unkommentiert!) Im Zug hingegen brach schallendes Gelächter aus. Lediglich eine vierköpfige Damenreisegruppe begann kurzzeitig darüber zu debattieren, ob sie auf dieses unmoralische Angebot eingehen sollte. Schließlich waren von der Stunde, die der nächste ICE Richtung Ruhrpott später kommen sollte, bereits drei Viertel vergangen. Ich suchte über mein Telefon in der Zwischenzeit alternative Möglichkeiten noch am selben Tag von Mannheim bis nach Berlin zu gelangen, denn die Hoffnung, meinen Flug noch zu erreichen, war derweil nahezu gänzlich verschwunden. Die Stimme des Lokführers erklang erneut und wiederholte die Gutschein-Ansage. Etwa eine Hand voll Fahrgäste stieg entnervt aus, wodurch auch die Damen aus dem Pott wieder das Überlegen anfingen und nach einigem Hin und Her ebenfalls den Zug verließen. Als die ersten zwei wieder festen Boden unter den Füßen hatten, erklang am Bahnsteig das liebliche Ding-Dong „Der nachfolgende ICE nach Dortmund, heute voraussichtlich eine Stunde später!“ und – schneller als man gucken konnte – standen alle vier, in einer Hand den Koffer, die andere wild gegen die Stirn tippend, wieder im Zug.
Ich schaute auf meine Uhr: noch knapp fünfzig Minuten bis zum Abflug, davon noch dreißig Minuten offiziell Fahrtzeit. Ich resignierte. Griff nach meinem Koffer, ging zur Tür, verabschiedete mich bei den Umstehenden mit einem Lächeln, wünschte viel Erfolg bei der Weiterreise, verfluchte die Deutsche Bahn, setzte den ersten Fuß auf den Bahnsteig, drehte mich direkt wieder um, begrüßte die plötzlich freudig erregten Gesichter und nahm exakt die Position von vor fünfzehn Sekunden wieder ein. Was war passiert? Ich hatte den Zug noch gar nicht komplett verlassen, als exakt in diesem Moment durch die Lautsprecheranlage, die „nun doch“ Abfahrt des Zuges angekündigt wurde. Leichter Beifall brandete auf. Die Türen schlossen sich und der Zug setzte sich tatsächlich in Bewegung. Die Ansage des Zugkapitäns annoncierte eine Ankunft am Frankfurter Flughafen gut zwanzig Minuten vor Abflug. Ich schnappte mein Telefon, wählte die Servicenummer der Lufthansa und landete erstaunlich schnell bei einer menschlichen Stimme. Ich schilderte ihr meine aktuelle Situation und bekam die Anweisung, mich bei der Ankunft direkt am erst besten Lufthansa-Schalter zu melden, damit von dort die Info ans Gate weitergegeben werden könnte. Ein Hauch von Zuversicht kam zurück. Dennoch fragte ich spontan nach, was denn wäre, wenn ich „wider Erwarten“ den Flug nicht mehr bekäme und was mich ein neues Ticket kosten würde. Ich hatte nun also ein halbe Stunde Zeit, um abzuwägen, ob ich lieber für 300 Euro, dafür aber mit nur einer Stunde Verspätung, oder aber für 150 Euro, mit der Bahn und im Idealfall mit fünf Stunden Verspätung, irgendwann nach Mitternacht, zu Hause ankommen wollte. Die Entscheidung war, anhand des bereits erlebten Zustandes bei der Bahn und dem nicht geringen Risiko womöglich in Wolfsburg oder Hannover über Nacht zu stranden, relativ schnell getroffen. Aber noch lebte ja die Hoffnung. Zumindest bis ins Örtchen Biblis. Wieso ich das so genau sagen kann? Dort legte der ICE einen extra einen Stopp ein, damit auch jeder das Schild am Bahnsteig in aller Ruhe lesen konnte. Überflüssig zu erwähnen, dass eine Information vom Zugpersonal aus blieb. Die Zeit verrann. Nach und nach erzählte jeder der umstehenden Leidensgenossen seine tagesaktuelle Reisegeschichte: Wo kam man her? Wo wollte man noch hin? Köln, Kanaren, Madagaskar? Und wie viel Zeit bleibt noch bis zum Abflug oder zum nächsten Zuganschluss.
Als keiner mehr ernsthaft damit rechnete, fuhr der Zug doch noch im Frankfurter Flughafenbahnhof ein – mit genau 61 Minuten Verspätung und neun Minuten vorm Abflug. Ich schnappte, zugegeben wenig hoffnungsvoll, meinen Koffer und rannte los – vielleicht hat ja der Flieger auch etwas Zeitrückstand. Wer den Frankfurter Airport kennt, weiß, da ist immer einiges an Wegstrecke zurückzulegen. Und dennoch stand ich nach ziemlich exakt drei Minuten, mit knalle rotem Kopf und dem vermutlich freundlichen Gesichtsausdruck eines Bulldozers, am erst besten Lufthansa Check-In-Schalter. Der Flug war natürlich schon geschlossen und mir blieb nichts anderes übrig, als mich meinem Schicksal zu fügen und mich nach der nächsten Heimreisemöglichkeit zu erkunden. Köfferchen geschnappt, die Rolltreppe wieder nach oben und am Lufthansa-Ticket-Schalter für die kleine Kleinigkeit von fast dreihundert Euro ein Ticket für den nächsten, beziehungsweise übernächsten Berlinflieger zu erstehen. Ich hatte nun also wieder etwas Zeit und beschloss, meine besonders gute Laune noch eben schnell mit dem immer freundlichen und hilfsbereiten Personal am Service-Point der Bahn zu teilen. Ich lief also zurück zum Bahnterminal und erklärte dem armen Kerl hinter dem Schalter, in ruhigen und sachlichen Worten, wie zufrieden ich mit der Dienstleistung der Bahn wäre, bis dieser auf Streichholzschachtelgröße zusammengefaltet war und Tränen in den Augen hatte. Ich griff mir eines der Beschwerdeformulare, ließ mir die Verspätung quittieren und machte mich grußlos zurück auf den Weg Richtung Check-In. Von da an lief alles relativ reibungslos. Ich war, trotz einer viertel Stunde Verspätung – who cares? – am Ende ziemlich genau eine Stunde später und dreihundert Tacken ärmer endlich in Berlin angekommen und heilfroh, nicht auf die absolut verrückte Idee gekommen zu sein, von Frankfurt mit dem Zug weiter nach Berlin zu fahren. Ich wäre vermutlich heute noch nicht wieder zu Hause. Bleibt die spannende Frage, welche Antwort werde ich von der Bahn auf mein Beschwerdeschreiben und die Geldrückforderung erhalten …

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